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Überväter und Filmkinder

Der ORB zeigt heute den siebten Teil der Langzeitdoku „Die Kinder von Golzow“ (22.15 Uhr). Zwar soll es bis 2005 weitergehen, doch „Jochen – Ein Golzower aus Philadelphia“ mag nicht mehr

von NICOLA HOCHKEPPEL

Nahe der polnischen Grenze im brandenburgischen Oderbruch liegt die Gemeinde Golzow. Mit ihren rund 1.100 Einwohnern wurde sie in den 80ern Vorzeigedorf der DDR. Nicht nur, weil die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) vom Typ III jährlich die Erträge steigerte,größter Gemüselieferant des Oderbruchs wurde und Honecker sogar Staatsbesucher in die erfolgreiche „Tier- und Pflanzenproduktions“-Plantage mitnahm. Hier entstand auch die älteste Langzeitbeobachtung der Filmgeschichte. Mit dem DEFA-Kurzfilm „Wenn ich erst zur Schule gehe“ begann der Regisseur Winfried Junge im Jahr des Mauerbaus 1961 die Chronik der Kinder von Golzow.

Aus den Erstklässlern wurden Junge Pioniere, pubertierende Teenager, Facharbeiterinnen, Studenten, Familienväter, alleinerziehende Mütter – und Winfried Junge mitsamt Filmteam, zu dem seit den 70er-Jahren seine Frau Barbara gehört, war immer dabei. Bis 1984 folgten neun Filme für die DEFA. Höhepunkt sollte ein abschliessender Film zum 50. Jahrestag der DDR 1999 werden. Doch mit der Wende 1989 stand die Chronik vor dem Aus. Mit Hartnäckigkeit und dem ORB als Koproduzenten gelang den Junges aber bisher die Fortführung der Golzower Lebensläufe. Seit 1994 entstanden so wieder sieben Einzelportraits von Menschen der Jahrgänge 1953 - 55, die in der DDR aufwuchsen und in der Mitte ihres Lebens BürgerInnen der Bundesrepublik wurden. Dreizehn sollen es bis 2005 insgesamt werden.

Jochen, die Hauptfigur der heutigen Erstausstrahlung „Jochen – Ein Golzower aus Philadelphia“, kommt natürlich nicht aus den USA. Ein Dorf mit Namen Philadelphia gibt es auch gleich in der Nähe, bei Storkow. Und so kommentiert Hans-Joachim Teich, kurz Jochen, seinen Lebensweg vom Wohnzimmersessel aus – derb, selbstbewusst und mitunter sarkastisch.

Die Filmklasse von 1961 hatte er schon ein Jahr später verlassen – die Familie wohnt mittlerweile in Bernau bei Berlin. Der Kontakt riss aber nicht ab: „Ach du Scheiße, jetzt stehen die wieder auf der Matte!“, war Jochens Reaktion, als die Junges 1971 zu seiner Abschlussprüfung als Melker auftauchten. Was folgt, sind Lästereien eines zunächst Unangepassten, über den DDR-typischen Melker-Wettbewerb – „Kunst- und Figurenmelken“, sagt Jochen. Doch jetzt ist es vorbei mit dem Thrill des Alltäglichen: An die 30 Mal wiederholt der drei Zentner schwere ehemalige Grenzsoldat im Film „Aus, Ende, Schluss“. Er will sein Leben nicht länger beobachtet wissen. Und kritisiert Winfried Junge, den „Übervater von Golzow“, der ihm beinahe sogar die eigene Hochzeit vermiest hätte: „Wir mussten das Mittagesen verschieben, nur wegen deiner blöden Filmerei!“

Die Gemeinde Golzow hat in der Schule eine „Ständige Filmausstellung“ eingerichtet, Info: (033472) 514 64

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