: Staffellauf der schlimmen Berge
taz-serie „Berliner Bergwelt“: Mörderberg, Galgenberg, Kanonenberg waren einst berühmt-berüchtigte Berliner Anhöhen. Heute finden sich hier Landschaftsschutzgebiete, Gotteshäuser und Kiesgruben
von WALTRAUD SCHWAB
Bestenfalls erinnert noch der Kalvarienberg auf den zwölf Bildern des Kreuzweges in der Weddinger St.-Sebastians-Kirche daran, was früher auf dem Gartenplatz los war: Massenspektakel, Mummenschanz, Hinrichtung. Hier wurden Leute gehängt, gemartert, verbrannt. Zur Belustigung und Abschreckung. Der letzte Atemzug als Anschauungsunterricht. Dabei stand die Todesstrafe nicht nur für kapitale Verbrechen, sondern auch für die, die heute gut als lässliche Sünden durchgehen: Hühnerdiebstahl, Ehebruch.
Der Gartenplatz war früher der Galgenberg. Damals lag er noch außerhalb der Stadt. Zum letzten Mal soll dort am 2. März 1837 ein Todesurteil vollstreckt worden sein. Das „der alten Meyern“. Schuldig des Gattenmordes. Sie habe sich selbst zur Witwe gemacht, steht in den Büchern. Mit einem Fleischmesser habe sie ihren Mann um die Ecke gebracht und sei gerädert worden dafür. Ein schöner Tod ist das nicht.
Verschiedene Varianten fürs Rädern sind überliefert, weil der menschlichen Fantasie keine Grenzen gesetzt sind, wenn es ums Martyrium geht. So wurden die einen auf ein Wagenrad gebunden und mit einer Eisenstange geschlagen. Wie oft, gab das Urteil vor. Lebte der Delinquent danach noch, ließ man ihn auf dem Rad hängen, bis er starb. Viel spricht dafür, dass in Berlin den Verurteilten beim Rädern jedoch eher mit einem Wagenrad alle Knochen und zuletzt das Genick gebrochen wurde.
Wenn die Meyer Glück hatte, hat sie von einem Dekret Friedrichs des Großen aus dem 18. Jahrhundert profitiert. Fast wäre er als Jugendlicher selbst hingerichtet worden, hätte sich sein Vater, der Soldatenkönig, gegen das Gericht durchgesetzt. Das Vergehen: Desertion. Das war es aus Sicht seines Vaters. Der Kronprinz hatte sich nach England absetzen wollen, um der arrangierten Heirat mit Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel zu entgehen.
Kaum selbst an der Macht, ordnete Friedrich der Große an, dass Henker die zum Tod durch Rädern Verurteilten vor der Hinrichtung heimlich erdrosseln sollen. Dort aber, wo Friedrichs Folteraversion nicht wirkte, blieb den Verurteilten nur die Möglichkeit, den Scharfrichter zu bestechen, dass er umgekehrt vorgehe: erst das Genick brechen und dann die restlichen Knochen.
Im 19. Jahrhundert wächst Berlin rasant. Die Industrialisierung war auch hier angekommen. Deshalb wurde der Wedding 1861 eingemeindet und zum Berliner Arbeiterbezirk. Aus dem Galgenberg wurde der Gartenplatz. Dass er einmal auf einer Anhöhe lag, daran erinnert nur noch die Bergstraße in unmittelbarer Nähe.
Wie überall im neuen Norden Berlins entstanden in der Gegend um den Galgenberg/Gartenplatz große Mietskasernen mit lichtarmen Hinterhöfen und sozialem Elend. Wo Armut war, gab es Seelen zu retten. Pfarrer hatten viel zu tun. Ein halbes Jahrhundert nach dem Tod der Witwe wurde auf der Hinrichtungsstätte die katholische Kirche der St.-Sebastians-Gemeinde gebaut und 1893 eingeweiht.
Zu Mauerzeiten stieg das Gotteshaus in seiner frühgotischen Coverversion für ein paar Jahre zur „Bischofskirche“ in Berlin auf, weil die katholische Nummer eins in der Stadt, die St.-Hedwigs-Kathedrale, in Ostberlin lag. Dabei trennte der Mauerbau die St.-Sebastians-Gemeinde selbst in zwei Hälften. Für viele Gläubige galt 28 Jahre lang zweifache Diaspora: katholisch in Preußen und christlich im Sozialismus. Auch heute, 13 Jahre nach der Wende, fehlt dem Gotteshaus die rechte Anbindung an die Umgebung. Deplatziert wirkt es, Zuckerbäckerarchitektur umgeben von Sozialwohnungen. Von den mehr als 3.000 katholischen Seelen gehen am Sonntag grade mal ein paar Dutzend zur Messe.
Der alte Pfarrer von St. Sebastian liebte es konservativ, der Neue besticht durch Wortkargkeit. Dass sein Gotteshaus auf dem Galgenberg steht – was soll er tun? Sollen die Toten in Frieden ruhen. Eine Gruft hat die Kirche keine und vom nächtlichen Spuk der unruhigen Meyern hat Pater Andreas noch nichts bemerkt. Allerdings ist der 36-Jährige auch erst seit April neuer Chef der Gemeinde. Ein standhafter Marist, Marienverehrer, ist er. Seit 102 Jahren gibt es den französischen Orden in Deutschland. Drei Mitbrüder leben in Berlin. Einer von ihnen ist seit September neuer Gefängnispfarrer in Tegel. Früher wurde in der Südsee missioniert, heute in der Heimat. Das ist wahre Herausforderung.
Veränderungen wird der neue Seelsorger langsam angehen. Das passt zu seinem emsländischen Temperament. Zwischen Frage und Antwort liegt bei ihm eine Pause. Wie ist es als Pater im Wedding? Was ist am Ordensleben modern? Darf ein Pfarrer sich verlieben. „Er darf Vorlieben haben“, antwortet er. Trotz aller Bedächtigkeit ist seine erste Revolution schon im Werden: Auch Mädchen dürfen nun Messdiener sein. Etwas hat sich in Berlin zudem wie ein Lauffeuer verbreitet: Der Neue hat ein großes Herz. Schon klopfen Bedürftige am Pfarrhaus an und bitten um Geld. „Herr Pater, bei mir ist ein relevanter Notfall eingetreten und ich bin derzeit gerade nicht so begünstigt.“ Schnell spricht der Mann, damit er mehr Gründe vorbringen kann. „Meine Ziehtante, die in Lübars, Sie wissen schon. Ich bräuchte das Fahrgeld. Das macht zwei-zehn hin und zwei-zehn zurück. Sagen wir fünf Euro.“ Der Pater bedauert. Ausgerechnet heute ist selbst blank.
Beim Staffellauf der schlimmen Berge gibt es mehr als eine Passion: Vom Galgenberg wird der Stab weitergereicht. Die Kanonenberge sind dran. Immer im Plural, denn die Stadt ist voll davon. Im Westen stehen welche, in der Mitte und im Südosten. Letztere sind die höchsten. 70 Meter über Normalnull. Unweit vom Müggelsee, mitten im Wald. Vom alten Feind ist nichts zu sehen. Stattdessen Vogelgezwitscher, Sommerduft und die Schönheit der Ödnis. Kanonenberg-Feeling eben. Etwas wie Wildwestnostalgie und deutsche Romantik in einem. Wo einst der Berg war, ist nun eine verwilderte Kiesgrube. Nachdem es nichts mehr zu verteidigen gab, wurde der märkische Sand als Mörtel benutzt. Eine Kraterlandschaft, eine Tiefebene ist entstanden. An heißen Tagen flimmert die Luft.
„Hahn oder Henne?“, fragt ein Mädchen, das hier oben mit ihrer Freundin herumlungert. Die beiden sitzen am Rand eines Sandhaufens, wo einst wohl Kanonen standen, und pflücken das Rispengras zwischen dem Moos. Dann streifen sie die kleinen Seitenhalme der spillrigen Ähre ab. „Ein Spiel“, erklärt die eine der anderen. Wenn die abgezupften fiedrigen Ähren der Rispe alle auf einer Höhe sind, ist es „Henne“. Wenn nicht, „Hahn“. Instant-Unterhaltung. Denn auf den Kanonenberg verschlägt es einen ohne Absicht. „Hahn“, wettet die eine. Aber es ist Henne. Sie hat verloren. Es ging um nichts. Danach holen die Teenager einen CD-Player aus der Tasche, stopfen sich je ein Ende des Kopfhörers ins Ohr. „Missing you. Missing you“, singen sie mit.
Dass hier in dieser Wildnis Kanonen gestanden haben sollen – idiotisch. Pfade überwuchert von Moos, die Kiesgrube mit Birken, Tannen und Ahornen bewachsen. Knallerbsen ersetzen den Knall und Schnaken, die zu spät erschlagen werden, das Blut. Wer seine Finger so zusammenlegt, dass nur noch ein kleines Loch zum Durchschauen bleibt und dadurch auf den Sand blickt, wähnt sich in der Wüste. „No more tears, no more tears“, schreien die beiden Mädchen in den Wald. Sie breiten ihre Arme aus, als wären es Segelflugzeuge, und rennen die Hügel hinunter.
Es gibt sie, die verdammten Berge. Galgenberg. Kanonenberg. Mörderberg. Letzterer hinter Blankenburg raus. Vorbei an abgemähten Feldern und einer leer stehenden Polizeikaserne. Plattenbau. Wertlos. Grausam die Sonne, die darauf scheint. Gelb blühendes Kraut hat sich alle Ritzen erobert, wächst in Fensterbänken und Treppenfugen. Die Bushaltestelle davor: „Marderberg“. Auf alten Karten aber „Mörderberg“. Der Name so oder sinnlos. „Vielleicht weil es so viele Marder hier gibt“, sagt der Hobbygärtner aus der Kleingartenkolonie Märchenland. Sie fängt genau da an, wo das Gipfelkreuz nicht steht. Stattdessen ein Schild, das Reitern verbietet, den Fußweg zu benutzen, der den Hügel hochführt.
Die Kleingartenkolonie ist so eine, die sich auf die Fahnen schreibt, die größte in ganz Deutschland zu sein. Nach Isegrim, Rumpelstilzchen, Zwerg Nase sind die Wege benannt. „Über tausend Parzellen gibt es“, sagt der Hobbygärtner, ganz in Olivgrün gekleidet, „1939 gegründet.“ Wer hier war, hatte Extras im Krieg. Er selbst ist seit 23 Jahren dabei. Bereut hat er es nie.
Grausame Berge müssen an heißen Tagen besichtigt werden. Minimum 30 Grad. Schon der Weg zum Mörderberg muss eine Pein sein. Zuerst mit der Mörder-S-Bahn durch Mörder-Tunnel, dann entlang Mörder-Straßen. Der Aufstieg zum Mörderberg, der nun Marderberg heißt, obwohl niemand weiß, warum, taugt für Polizeiruf und Tatort. Neu gepflanzte Linden säumen die Schotterpiste. Rechts und links Felder. Darüber Sonne. Bei der Hitze sind zweihundert Meter schon Schicksal.
Gott sei Dank gibt es im Reineke-Fuchs-Weg oben in den Kolonie eine Laube mit Laden. Die Sonne scheint darauf. Es riecht nach frischer Farbe. Rasenmäher können hier ausgeliehen werden. Coca-Cola und Kindl geben den Ton an. Der Sixpack ist in Pfandflaschenversion erhältlich. Dazu Schlagzeilen, Zigaretten und Kunstrasen. Heile Welt eben. Traumfabrik. Paradies Berlin. Endlich.
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