: „Die peinlichsten Begebenheiten erzählt“
Andreas Dresen hat seinen Film „Halbe Treppe“ gemeinsam mit den Schauspielern erarbeitet: „Wir wollten dicht an der Wirklichkeit arbeiten“
taz: Herr Dresen, als Sie zu drehen begonnen haben, existierte kein Drehbuch. Wie viel war als Plan trotzdem schon da?
Andreas Dresen: Es gab ein Arbeitskonzept, das festlegte, wie das Team strukturiert ist und wie man die Dreharbeiten aufbaut. Außerdem gab es eine Vorgabe für die Biografien der vier Figuren und einen losen Plot: Es gibt zwei Paare, zwei der vier Partner betrügen ihre jeweiligen Partner, die Affäre fliegt auf, und sie müssen sich entscheiden. Dialoge oder konkretere szenische Vorgaben hatten wir nicht, wir haben sie im Verlauf der Dreharbeiten gemeinsam entwickelt.
Wie kommt man – zum Beispiel bei der langen Aussprache am Küchentisch – von der Improvisation zur fertigen Szene?
Wir haben in einem kleinen Hotel gewohnt in Frankfurt (Oder) und hatten dort einen großen Gemeinschaftsraum. Darin stand ein langer Tisch, um den saßen wir wie eine italienische Großfamilie. So haben wir versucht, uns über unsere Geschichte zu verständigen. Um uns zu erheitern, haben wir uns die peinlichsten Begebenheiten aus unserem Leben erzählt. Axel Prahl erzählte, dass er mal ein Verhältnis hatte. Das flog auf, und der Partner der Frau verlangte eine Aussprache. Es war eine ähnliche Szene wie später im Film, und ich sagte sofort: „Das müssen wir drehen, das ist ja an Peinlichkeit kaum zu überbieten.“
Wie ging es dann weiter?
Ich habe jeder Figur eine Haltung vorgegeben, mit der sie in diese Szene hineingehen sollte. Es war klar, dass Uwe [die von Axel Prahl gespielte Figur] die treibende Kraft ist. Ich habe die Szene am Drehort in Originalzeit ablaufen lassen, von der Ankunft der Paare bis zum Aufbruch. Das hat etwa 40 Minuten gedauert, mit allen damit verbundenen Peinlichkeiten. Beim zweiten Mal habe ich ein bisschen korrigiert und mit Michael Hammon [dem Kameramann] etwas anders gedreht. Aus diesen beiden Basis-Takes ist später die Szene montiert worden. Das Hauptproblem bestand darin, aus dem vielen Material eine sechsminütige Szene zu schneiden.
Wenn man ohne Drehbuch arbeitet, lässt sich diese Diskrepanz vermutlich nicht vermeiden.
Ja. Das ist bei dieser Arbeitsweise klar. Man muss viel Zeit auf den Schnitt verwenden. Es ist ähnlich wie beim Dokumentarfilm, wo man als Jäger und Sammler unterwegs ist.
Sie drehen an Originalschauplätzen, Sie lassen die Schauspieler in den Berufen arbeiten, die sie als Filmfiguren innehaben, Sie verzichten auf aufwändige Aufbauten für die Kamera. Warum?
Ich wollte Realitätsnähe, und ich wollte, dass es für die Schauspieler die Möglichkeit gibt, anders zu spielen, als es normalerweise beim Film der Fall ist. Wenn an einer Stelle eine Schiene für die Kamera liegt und an einer anderen Lampen stehen, begrenzt das die Spielfläche automatisch, so dass viele Absprachen getroffen werden müssen. Wir wollten stattdessen dicht an der Wirklichkeit arbeiten, so dass es fast aussieht wie ein Dokumentarfilm.
Empfinden die Schauspieler Ihre Arbeitsweise als befreiend?
Ja. Für die Schauspieler war das eine schöne Erfahrung. Man wünscht sich doch, dass man der Intuition nachgeben, dass man sich mit geschlossenen Augen rückwärts fallen lassen kann. Wir haben uns gesagt: „Okay, wir gehen in ein dunkles Loch, wir gucken mal, wie wir da gemeinsam rauskommen, und lassen uns überraschen von den Dingen, die zwischen uns passieren.“
Sie haben Erfahrung als Theaterregisseur. Hilft Ihnen das im Umgang mit den Schauspielern?
Auf jeden Fall.
Inwiefern?
Vom Theater her kenne ich die Prozesse, wie sich Schauspieler eine Rolle erarbeiten. Und das beginnt eben damit, dass man ihnen einen Freiraum lässt, wenn man auf der Probe anfängt, an einer Szene zu arbeiten.
Sowohl vor als auch hinter der Kamera stehen bei Ihren Filmen immer wieder dieselben Leute. Ist das eine unabdingbare Voraussetzung für Ihre Art zu drehen?
Ein Projekt wie „Halbe Treppe“ kann man nur machen, wenn man sich sehr gut kennt. Das Team muss so zusammengesetzt sein, dass es in der gemeinsamen Arbeit harmoniert, dass man sich gegenseitig Impulse gibt, sich beflügelt, sich kritisiert und in den Hintern tritt. Alles muss möglich sein. Sonst verheddert man sich ganz schnell in gruppendynamischen Prozessen. Man muss das Vertrauen haben, sich fallen zu lassen. Das ist nötig, damit man an einem Tisch sitzen und sich die peinlichsten Geschichten erzählen kann.
Wer möchte das mit seinen Kollegen schon tun …
Eben. Es erfordert eine gewisse Offenheit, von mir natürlich auch.
Wenn Sie möglichst dicht an der Wirklichkeit, fast dokumentarisch filmen wollen, sperren Sie sich zwar gegen die Glattheit des traditionellen Erzählkinos, Sie laufen zugleich aber Gefahr, dem Alltag verhaftet zu bleiben, da Sie ihn ja nicht durch Fiktion, durch den Möglichkeitssinn transzendieren.
Ich denke schon, dass genau das in irgendeiner Form stattfindet. In „Die Polizistin“ vermutlich weniger als in „Halbe Treppe“. Darin gibt es Momente, die die alltägliche Ebene durchbrechen. An manchen Stellen hebt der Film ab, bekommt er etwas Besonderes, fast etwas Märchenhaftes. Zum Beispiel über die Horoskope und darüber, dass sich die Dinge einzulösen beginnen, die der Moderator vorhersagt. Perspektivisch wünsche ich mir, dass solche Elemente wichtiger werden in meinen Filmen, dass sich der Realismus mit Magie verbindet.
Man sollte außerdem hinzufügen, dass es einen authentischen Film gar nicht gibt, auch im Dokumentarfilm nicht. Es ist eine große Illusion, dass man im Dokumentarfilm das Leben zu sehen meint. Man sieht gefiltertes Leben. Wenn es eine Kamera gibt und wenn Leute entscheiden, worauf sie gerichtet ist, wann sie ein- und wann sie abgestellt wird, findet eine Selektion statt. Das mag authentisch wirken, aber es ist gestaltet, in einem künstlerischen Vorgang. Deswegen ist es eine Illusion, wenn die Dogma-Leute der Meinung sind, durch das Aufstellen bestimmter Spielregeln würde man den gestaltenden Einfluss herausnehmen.
Gerade das ist ja ein Widerspruch in sich. Denn die Regeln prägen wiederum die Situation oder erschaffen sie erst.
Eben. Wenn man die Wirklichkeit sehen will, muss man das Fenster aufmachen. Ins Kino darf man nicht gehen.
INTERVIEW: CRISTINA NORD
„Halbe Treppe“. Regie: Andreas Dresen. Mit Steffi Kühnert, Gabriela Maria Schneide, Thorsten Merten, Axel Prahl u. a. Deutschland 2002, 105 Min.
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