„Jede Menge Konfliktpotenzial“

Der ehemalige Bürgerrechtler Wolfgang Templin über die neue soziale Frage, die Ideologie der neuen Mitte, sein Interviewmit der „Jungen Freiheit“ und die EU-Osterweiterung. Entscheidend sei, wie sich Gewinner und Verlierer gegenüberstehen

Interview UWE RADA

taz: Herr Templin, wie haben Sie den Tag der Deutschen Einheit verbracht?

Wolfgang Templin: Wunderbar, im Fläming, beim Wandern.

Nicht am Brandenburger Tor?

Nein. Ich hatte dieses Jahr Lust, was anderes zu machen.

Welche Bedeutung hat der 3. Oktober für Sie? Ist er eher eine Niederlage oder die logische Konsequenz des Mauerfalls?

Er ist bis heute ein falsches Datum. Ich habe bislang jedes Mal am 3. Oktober ein Problem damit gehabt, dass ausgerechnet dieser Tag zum Feiertag, zum Tag der Einheit gewählt wurde. Ich finde nach wie vor, dass diese Entscheidung korrigiert werden sollte. Wenn man schon einen solchen Feiertag will, dann sollte es ein Datum sein, das unmittelbar mit dem Herbst 1989 verbunden ist. Für mich gibt es da eigentlich nur ein Datum, das ist der 9. Oktober.

Nicht der 9. November?

Der 9. Oktober ist als Tag der größten Demonstration in Leipzig bedeutender gewesen. Der 9. November eignet sich deswegen nicht als Feiertag, weil dieses Datum an die Pogromnacht von 1938 erinnert. Der 3. Oktober hat noch nicht einmal die Geschichte auf seiner Seite. Er verkürzt ein gesellschaftliches Erdbeben auf die staatlich-adminstrative Ebene.

Wenn wir schon einmal bei Daten sind. Warum nicht der 4. November, der Tag der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz?

Wenn mich jemand fragt, wo sich der Herbst 1989 in der DDR stärker ausdrückte, dann wähle ich nicht Berlin als Ort …

weil es am Alexanderplatz nicht um die Abschaffung der DDR, sondern um einen menschlichen Sozialismus ging?

Zum einen das. Und zum andern, weil Berlin in diesen Ereignissen eher hinterhermarschierte als voranging.

Später marschierten dann die Bürgerrechtler der Gegenwart hinterher, weil sie nur noch Augen für die Geschichte, also die Aufarbeitung der Stasi-Akten hatten.

Dass uns diese Aufgabe so stark beschäftigte, hängt damit zusammen, dass sich zu viele andere dieser Aufgabe verweigerten.

Damit haben Sie aber als Bürgerbewegung einen Teil der utopischen Kraft, die Sie auch für sich reklamieren, eingebüßt.

Ein Großteil der ehemaligen Opposition hat sich diese Rolle, die sie gar nicht nur als ihre gesehen hat, zu bereitwillig zuschieben lassen. Sie hat zu wenig dafür getan, dass das, was an Interesse und an sonstigem Profil da war, weiterhin sichtbar zu machen. Am Runden Tisch stand im Übrigen nicht die Abrechnung mit dem alten System auf der Tagesordnung. Da ging es um die ganze Palette eines möglichen und besseren gesellschaftlichen Handelns. Zum Beispiel um neue Ansätze in Sachen Parteiendemokratie und eine neue Verfassung. Aber es zeigte sich auch, dass auf vielen dieser Felder der Vereinigungspartner in der erdrückenden Übermacht war und außerdem in den dominierenden politischen Kräften kaum Bereitschaft zeigte, sich auf etwas Neues und anderes einzulassen.

Was waren für Sie in den vergangenen zwölf Jahren die wichtigsten, auch persönlichen, Ereignisse?

Ich bin da jetzt vielleicht unverschämt privat. Aber im ersten Moment fällt mir dazu das Wiedersehen mit oder das Neuentdecken von sehr vielen Leuten ein, die ich schon vor 1989 kennen lernte. Ich war in den Siebzigerjahren sehr oft in den Ostblockländern unterwegs und schloss dort Bekanntschaften und Freundschaften. In den Achtzigerjahren dann war das aufgrund der Reiseblockaden sehr schwierig. Dieses alles wieder zu erneuern, dafür habe ich mir in den Jahren nach 1989 viel Zeit genommen. Auch weil sich hier die neue Brücke herstellt, und nicht in der exzessiven Beschäftigung mit DDR-Vergangenheit. Das Zweite, was meine letzten Jahre sehr geprägt hat, war, dass sich innerhalb Berlins meine Lebenswelt und meine Optik noch einmal ganz stark verschoben hat.

Sie meinen Ihren Umzug nach Kreuzberg.

Ich bin seit Mitte der Neunzigerjahre Bürger Kreuzbergs, und ich merke, dass ich das von Jahr zu Jahr noch mehr werde. Das hat meine Sensibilität für den anderen Teil der deutsch-deutschen Geschichte erheblich geschärft.

Glauben Sie, dass die Erfahrung Kreuzberg einigen anderen Ihrer ehemaligen Mitstreiter auch gut getan hätte?

Auf jeden Fall. Ich tue auch, was ich kann, um meinen alten und auch neueren Freunden dieses Wechselbad an Erfahrungen, diese Neugier, dieses Nicht-auf-den-alten-Positionen-sitzen-zu-bleiben, näher zu bringen.

Was sind das für Erfahrungen? Sind das politische Erfahrungen, soziale Erfahrungen oder auch Erfahrungen im Zusammenhang mit Kreuzberg als Einwanderungsbezirk?

Ich glaube, wir haben vor 1989 einiges an Sensorium entwickeln können und müssen, was unseren Anspruch an eine offene und freie, aber auch eine solidarische und gerechte Gesellschaft betrifft. Das musste in der damaligen Situation in einem permanenten Widerspruch mit dem geschehen, was die DDR vorgab zu sein, aber nicht war.

Und Gleiches gilt nun auch für die Bundesrepublik? Oder in Kreuzberg im Zusammenhang mit Jugendarbeitslosigkeit und fehlenden Chancen für Migrantenkinder?

Ja. Und ich meine auch, dass ich gar nichts Neues in mir freisetzen muss, um dagegen zu rebellieren. Wenn ich gegen unerträgliche Situationen und eine wachsende soziale Schere rebelliere, dann erwacht da eine alte Erfahrung in mir.

Aus dem DDR-Oppositionellen wurde ein bundesdeutscher?

Wenn ein Teil meiner alten Freunde sagt, das Neue ist im Grunde genommen das Alte, kann ich nicht zustimmen. Ich kann mir aber auch nicht einreden: Nur, weil wir jetzt die Demokratie haben, ist das, was hier passiert, ein bloßes Entwicklungsproblem, mit dem man in der Demokratie gut umgehen kann, wo man nur ein paar andere Stellschrauben drehen muss. Ich finde vielmehr, dass das Probleme sind, die in neuer Weise an den Nerv einer Gesellschaft gehen.

Wer stellt sich in der Bundesrepublik dieser neuen sozialen Frage?

Das ist etwas, was mich schon lange im Zusammenhang mit den Grünen beschäftigt. Ich hätte mir die Grünen insgesamt mehr als Korrektiv gewünscht. Als eine gesellschaftliche und politische Kraft, die eines zu ihrer Grunderfahrung gemacht hat und an ihr festhält: nämlich eine Alternative zum Machtkartell und zum Professionalisierungsanspruch der anderen Parteien zu sein.

Ist das nicht das normale Schicksal einer Bürgerrechtspartei, bei der es eben im Wesentlichen um bürgerliche, nicht aber um soziale Rechte geht?

Der originäre grüne Ansatz, der mich im Bündnis 90 zu den Grünen und zu keiner anderen Partei gebracht hat, war mehr. Er setzte der Grundungerechtigkeit der bürgerlichen Gesellschaft auch immer eine Haltung entgegen, die lernend sagt: Wir können dieses Übel vielleicht nicht im revolutionären Sinne mit Stumpf und Stiel ausrotten. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass es das gibt und dass das etwas ist, was die Demokratie im Gefahrenfalle nicht nur behindern, sondern lähmen und kaputtmachen kann. Wenn wir die Sensibilität dafür verlieren, dann sind alle anderen Fragen, mit denen wir uns beschäftigen, zweitrangig.

Sie stellen die soziale Frage.

Ja, aber nicht die alte, klassische. Ich meine vielmehr, dass man die neuen Erfahrungen ernst nehmen muss, und hier bin ich wieder beim Stichwort Kreuzberg. Man muss aber auch über die alte Ost-West-Differenz des Vereinigungsprozesses hinaus gesamtdeutsch schauen, wo sich heute soziale Gewinner und soziale Verlierer gegenüberstehen. Wen so etwas trifft wie Abstieg, neue Armut, Ausschluss. Und warum so viele, die sich sozialen Ausgleich auf die Fahnen geschrieben haben, entweder dafür blind sind oder sogar daran interessiert, diese Probleme klein- und wegzureden.

Warum sind sie es?

Weil die Verführung, zur anderen Seite zu gehören, zu groß ist. Die Verführung dazuzugehören, endlich nicht mehr auf der Verliererseite zu stehen, macht einen empfänglich für die falschen Rezepte.

Ist der DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin im Westen ein Linker geworden?

Ich habe in der DDR als Linker begonnen, an bestimmten Werten immer festgehalten und im Westen dazugelernt, dass man in anderer und eben nicht traditioneller Weise sie nicht aufgeben sollte.

Vor fast zehn Jahren sah es noch fast nach dem Gegenteil aus. Da haben Sie im Interview mit der rechten Jungen Freiheit sich tastend auf die Suche nach dem Wert der Nation begeben. In einer Zeit, in der unter anderem das Asylrecht ausgehöhlt wurde, war das entweder Absicht oder Naivität.

Das war das Teil meiner Suche, die in dieser Phase auch ein gerüttelt Maß an Blindheit für das einschloss, was mit einem Angebot wie dem der Jungen Freiheit verbunden war. Das hat mich bei meinem Suchen, trotz dieser Blindheitsmomente, aber nicht in die rechte Richtung gebracht. Aus heutiger Sicht ist für mich übrigens nicht die Frage danach illegitim oder dieses Suchen, sondern die fehlende Aufmerksamkeit dafür, wer da noch sucht und in welcher Weise.

In Kreuzberg gibt es diese Suche heute noch. Viele Deutsche grenzen sich von der Einwanderungsgesellschaft ab, viele türkische Jugendliche suchen ihr Heil in der Religion. Wer vertritt eigentlich heute transkulturelle Erfahrungen? Immerhin wird mit der EU-Osterweiterung das Angebot nationaler Identität noch ein weiteres Stück in den Hintergrund treten. Mit welchem kulturellen Begriff von Identität sollen wir in dieses neue Europa gehen?

Ich kann nicht sagen, dass ich diesen kulturellen Begriff habe. Ich könnte höchstens versuchen zu formulieren, welchen Weg ich sehe, ihn zu gewinnen, und welche Aufgabe ich für mich auf diesem Weg sehe. Dazu gehören einmal diejenigen, die sich schon lange mit diesem Thema auseinander setzen. Was aber noch viel wichtiger ist, ist die andere Seite, die viel stärker noch blockierte und verdrängte östliche Seite, die dem erst einen europäischen Maßstab gibt. Eine Seite, die diesen kulturellen Begriff kommunikativ sehr stark geprägt hat und der ich mich bis heute sehr stark verbunden fühle.

Sie meinen die Netzwerke der ostdeutschen und osteuropäischen Bürgerrechtsbewegung.

Und die Frage, welchen kulturellen Begriff sie in dieses neue Europa einbringen können. Das betrifft im Übrigen auch Erfahrungen mit Ausgrenzung und Ausschluss, die es zum Beispiel ja auch in Polen sehr stark gibt.

Als Europäer sind Sie ein glühender Verfechter der EU-Osterweiterung, als Vertreter einer neuen sozialen Frage müssten Sie davor zurückschrecken. Welche Seite in Ihnen hat da das Übergewicht? Oder lässt sich beides noch miteinander in Verbindung bringen?

Wir haben einen Prozess des Auseinandergehens der sozialen Schere und wir haben damit jede Menge sich aufladendes Konfliktpotenzial. Und wir haben diese verleugnende Haltung dazu, dass das alles nicht so sei, dass es doch eine starke Mitte gäbe und so weiter. Wenn es in Deutschland nicht gelingt, sich der Grundfrage zu stellen, wie diese Gesellschaft mit ihrem Gewicht gesellschaftlich und sozial miteinander umgehen, welche Art von Verantwortung voranstehen soll, wird es im europäischen Einigungsprozess noch schwerer. Solche Auseinandersetzungen und Fragen sind auch in einem Land wie Polen wichtig. Also: Wie will dieses Land mit seinen Transformationserfahrungen künftig auch sozial dastehen? Wie wollen die Gewinner der Transformation mit ihrer Chance umgehen gegenüber denjenigen, die aus einer Vielzahl von Gründen am anderen Ende stehen?

Gibt es da ein Umdenken? Sie selbst haben davon gesprochen, dass Jacek Kuron, einer der Begründer der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność, inzwischen den schnellen marktwirtschaftlichen Schockkurs nach der Wende in Polen problematisch findet. Werden auch in Osteuropa bürgerrechtliche Netzwerke an Bedeutung gewinnen, diesmal nur im europäischen Maßstab?

Ich sehe das so. Und ich sehe mich selbst in diesem Prozess als Vermittelnder und Begleiter. Als jemand, der mit schaut, wer noch mit dieser sozialen Frage umgeht, und wer die Ohren davor zumacht.

Was sagen Sie denen, die gerade aus sozialen Gründen vor einem schnellen Beitritt warnen?

Dass sie sich damit einen Bärendienst erweisen. Für mich gehört zu dieser Suche nicht die Abgrenzung, sondern das Zusammenkommen. Das ist nur möglich, wenn die Kräfte, die das Gemeinsame in menschlich vertretbarer Weise suchen, also nicht im Gewinnerkartell ihre Heimat finden, dafür auch genug tun.