: Die Letten lieben das Neue
Die Parlamentswahlen in dem baltischen Staat führen zu einem völligen Umbau der Parteienlandschaft. Neu gegründete Parteien kommen auf zwei Drittel aller Stimmen. Ein „Mister Clean“ wird vermutlich der nächste Ministerpräsident
von REINHARD WOLFF
Lettlands neuer Ministerpräsident heißt aller Voraussicht nach Einars Repse. Dem Mann, der zehn Jahre lang der lettischen Nationalbank vorstand und es schaffte, die nationale Währung stabil und die Inflation im Zaum zu halten, traute rund jeder Vierte der Wählerinnen und Wähler zu, auch der „Mister Clean“ zu sein, als der er sich im Wahlkampf präsentiert hatte. Knapp 24 Prozent erhielt seine konservative „Neue Zeit“ und wurde damit auf Anhieb und mit deutlichem Abstand stärkste Partei. Um eine parlamentarische Mehrheit zu finden, will Repse sich zunächst um die Bildung einer Mitte-rechts-Koalition bemühen.
Als Regierungspartner kämen damit in erster Linie die beiden bisherigen Regierungsparteien in Frage, die mit 5,3 Prozent kräftig gerupfte rechtsnationalistische „Vaterland und Freiheit“ und die rechtsliberale „Volkspartei“, die mit 16,6 Prozent der Stimmen dritte Kraft wurde. Die Partei des bisherigen Ministerpräsidenten Andris Berzins, „Lettlands Weg“, schien laut vorläufigem Endergebnis knapp an der Fünf-Prozent-Sperrklausel gescheitert zu sein. Eine der tragenden Kräfte der Unabhängigkeitsbewegung des Landes wäre damit nicht mehr im Parlament vertreten.
Von den bisherigen Parlamentsparteien schafften auch die Sozialdemokraten nicht mehr den Sprung über die Sperrgrenze. Als neue linke Kraft erwies sich das Parteienbündnis „Für Menschenrechte und ein vereintes Lettland“. Es schaffte damit schon beim ersten Anlauf hinter Repses „Neue Zeit“ mit knapp 19 Prozent den Sprung zur zweitstärksten Partei. Sie war vor allem in der Hauptstadt Riga und in den Städten Ventspils und Liepaja mit jeweils starken russischen Bevölkerungsgruppen erfolgreich. Ihr Vorsitzender Janis Jurkans gab am Sonntag seiner Hoffnung auf eine Regierungszusammenarbeit mit Repses Neuer Zeit Ausdruck – trotz der bislang negativen Signale Repses zu einem solchen Mitte-links-Bündnis.
Die GegnerInnen einer EU-Mitgliedschaft sammelten sich vor allem bei den „Grünen/Bauernpartei“, die auf knapp 10 Prozent kam und von Repse aus außenpolitischen Gründen als nicht koalitionsfähig eingestuft wurde. Ebenfalls rund 10 Prozent der LettInnen gaben der rechten „Latvijas Pirmia Partei“ (Lettlands Erste Partei) ihre Stimme. Diese sammelte mit offen rassistischer Propaganda damit weit mehr Wählerstimmen als von den Meinungsforschungsinstituten vorhergesagt.
Nach den jetzigen Wahlen kann man den LettInnen eines nicht vorwerfen: nicht experimentierfreudig zu sein. Bei den vergangenen drei Parlamentswahlen waren immer Parteien, die nicht älter als ein Jahr waren, die Sieger. Regelmäßig 50 bis 60 Prozent aller ParlamentarierInnen wurden ausgewechselt. Diesmal setzten die LettInnen eine neue Rekordmarke: Mehr als zwei Drittel der Stimmen entfielen auf Parteien, die es vor vier Jahren noch gar nicht gab.
Doch mit stabilen Mehrheiten im Parlament, der Saeima, hatte man es sich schon immer schwer getan. Bereits in vorsowjetischer Zeit, in der ersten Phase der Unabhängigkeit zwischen den Weltkriegen, traten 88 Parteien zu den Wahlen im Jahre 1922 an, 20 kamen ins Parlament. Gleich 120 waren es 1928, von denen immerhin 27 Parteien in die Saeima kamen.
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