piwik no script img

Das fünfte in den Reichstag …

… und Gruß auch an Madonna: Eine kurze Erzählung über einen Wichtigtuer und spielende Kinder im Gleis

Kurz vor Spandau erwache ich. Der Zug steht. Mein Handy klingelt – es ist Volker. Irgendwas wegen heute Abend. Ich tue so, als ob es mir unangenehm wäre, im Zug zu telefonieren. Ich spreche leise, aber akzentuiert. „Gästeliste“, sage ich, „ich lasse dich heute Abend auf die Gästeliste setzen.“ „Gästeliste“ klingt gut. Besonders, wenn man nicht darauf setzt, sondern darauf setzen lässt. „Gästeliste“, wiederhole ich laut, damit jeder im Abteil merkt, wie wichsig, äh, wichtig ich bin. Die Mitreisenden tun, als ob sie das völlig kalt lässt – sind die so gleichgültig oder schwerhörig? Bestimmt schwerhörig!

„Gästeliste“, rufe ich der attraktiven jungen Frau mir gegenüber zu, packe sie am Arm und halte ihr den Hörer vor die Nase, in dem Volker, nunmehr für mich unverständlich, herumquakt. Ich weiß eh nicht, was er will, außer dass es jedenfalls nicht das Geringste mit irgendeiner Gästeliste zu tun hat. Die junge Frau wendet sich ab, doch ich spüre, wie es in ihrem Kopf arbeitet: Wagt sie es, mich um ein Autogramm zu bitten? Bestimmt plant sie bereits, mich auf der Zugtoilette zu verführen. Ich werde mich vorsehen müssen.

Eine Durchsage verkündet, dass sich unsere Einfahrt in den Bahnhof Spandau verzögere, da das Gleis noch besetzt sei. Ich halte den Hörer wieder ans Ohr. Volker scheint inzwischen aufgelegt zu haben. Das macht überhaupt nichts: Ich sage noch mal laut „Gästeliste“, „von mir aus Gerd und Joschka auch“, Kaisers Geburtstag“, schließlich, „okay – das fünfte Flugzeug dann direkt in den Reichstag, Gruß auch an Madonna“ und „tschüß!“ Demonstrativ stöhne ich ob der scheinbaren Belästigung genervt auf. Der Zug fährt ein paar Meter weiter und bleibt dann erneut stehen. „Vor uns befinden sich spielende Kinder im Gleis“, informiert uns der Bordlautsprecher.

„Ach du Scheiße!“, seufzt die Frau. „Kann man die nicht wegschicken?“, frage ich, um ein Gespräch anzufangen, aber sie zuckt nur verklemmt mit den Schultern. So wird das nichts mit uns, Baby! Denke ich halt ein bisschen nach: Was machen die Kinder „im Gleis“ – haben die sich da zwischen den Bahnschwellen eingegraben? Oder stecken sie sogar direkt in den Schienen? Eine Regionalbahn überholt uns rechts, ein ICE kommt uns links entgegen. Nur wir stehen. Dabei würde ich den Kindern durchaus zutrauen, dass sie sich zum Spielen auch noch auf oder meinetwegen in die Nachbargleise begeben. Die Kinder aber sind sehr artig.

Also sitzen sie vor dem Bahnhof Spandau brav in ihrem angestammten Gleisbett und schichten Gleisschottersteinchen auf Gleisschottersteinchen. Zwei ganz große Türme haben sie schon gebaut – die sollen jetzt einstürzen. Ein Flugzeug haben die Kinder leider nicht, dafür einen Zug mit einer dämlichen ollen Kuh drin. Langsam setzt er sich wieder in Bewegung.

ULI HANNEMANN

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen