: berliner szenen Die Krise der Werber
Zunge zurück!
Das Crossmarketing, vor wenigen Jahren noch als das ganz große Ding gefeiert, hat viel von seinem Image eingebüßt. Auch das verschwenderische Logo-Branding ist ganz offensichtlich nicht in der Lage, die Käufer zu locken. Im Gegenteil, die Kundschaft bleibt weiterhin merkwürdig „werberesistent“. Weil aber gegen diese Resistenz keine neuen Ideen aufgetaucht sind, macht man es in der Werbung genau so wie beim Rattengift: Man erhöht die Dosis. So kann man sich in Mitte zurzeit kaum noch vor Werbeaufklebern retten, die von mutigen Radikalwerbern auf Mülleimer, Wahlplakate, Laternen, ja selbst auf den Straßenasphalt geklebt werden.
Jüngstes Beispiel ist die farblich aufgemotzte Stones-Zunge, die das Konsumvieh geradewegs von der Straße in die nächste WOM- oder Saturn-Filiale locken soll. Dass aber diese Aufkleber ausgerechnet in Mitte auftauchen, zeigt, dass die radikalen Werbetreibenden nicht mehr wissen, wo ihre Opfer leben. Hey, Werber! Die Zeiten, wo in Mitte noch coole Jungs wie Jürgen Laarmann und Dr. Motte im Boomclub abhingen und Knete scheffelten wie Drecksau, ist vorbei! Weg, over! Hier lebt keiner mehr. Mitte wird jetzt beherrscht von Touristenhorden, die aus den Vororten von Schwäbisch Hall oder Eisenhüttenstadt kommen und staunend vor Modeangeboten in Läden stehen, die bald pleite sind. Oder in Plattenläden, die sie nicht verstehen („Wo steht denn hier die neue Grönemeyer-CD?“). Kaufen tun die nie was. In ihren Heimatstädtchen aber haben sie keine coolen Klamottenläden und keine coolen Plattenläden. Daher bestellen sie ihren neuen Mantel oder die Grönemeyer doch wieder bei Otto und Neckermann. Klebt also woanders, Radikalwerber!
JÖRG SUNDERMEIER
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