piwik no script img

off-kino Filme aus dem Archiv –frisch gesichtet

Am Ende möchte der Fabrikant Herr Ellemeet (Pierre Bokma) ganz dringend nach Argentinien auswandern: der vermeintliche Wohltäter einer Kleinstadt ist entlarvt als Manipulator der lokalen Politik, Umweltsünder, Kinder- und Tierhasser. Ein schöner Erfolg für den unabhängigen investigativen Journalismus, sollte man meinen – doch tatsächlich ist Reporter Tibbe (Theo Maassen) in der Verfilmung des in den Niederlanden sehr populären Kinderromans „Die geheimnisvolle Minusch“ von Annie M. G. Schmidt bei seinen Recherchen vornehmlich auf die Unterstützung einer sehr seltsamen Mitarbeiterin angewiesen. Die lernt der ungemein erfolglose Journalist eines Abends kennen, als sie gerade auf einem Baum hockt, wohin sie sich in Panik vor einem Hund geflüchtet hat. Dass sie auch noch am liebsten tagsüber schläft, sich nachts auf den Dächern herumtreibt und am liebsten Fisch futtert, macht Tibbe zwar stutzig – doch die Geschichte, dass Minusch (Carice van Houten) einmal eine Katze war, mag er nicht glauben. Doch als Minusch anfängt, Tibbe mit den tollsten Neuigkeiten aus der Stadt zu versorgen, die sie von ihren Katzenfreunden erfährt, beginnt seine steile Karriere als Starreporter. Die ist allerdings auch gleich wieder in Frage gestellt, als die Katzen herausfinden, dass der populäre Herr Ellemeet ein übler Schurke ist. Das nämlich mag niemand glauben: die Chefredakteurin der Zeitung nicht, die Bürger der Stadt nicht, Tibbes Freunde nicht und Tibbe selbst eigentlich auch nicht …

Der Film des jungen belgischen Regisseurs Vincent Bal präsentiert sich als eine durchweg charmante und sympathische Angelegenheit: Überaus stil- und liebevoll wurde die Atmosphäre einer verschlafenen Kleinstadt geschaffen (sehr attraktiv sind die verwinkelten Dachkonstruktionen, auf denen sich Minusch immer herumtreibt), in der als spektakuläre Nachricht bereits der Münzenfund auf dem Friedhof gilt. Und die Hauptprotagonisten sind keine Superhelden, sondern Menschen (und Katzen) mit Ängsten und Zweifeln: Tibbe ist eigentlich viel zu schüchtern für seinen Beruf, und Minusch, deren Zerrissenheit zwischen Menschen- und Katzendasein Carice van Houten sehr überzeugend verkörpert, traut sich tagsüber noch nicht einmal auf die Straße. So muss ein jeder seine Angst überwinden, um den Kampf gegen Ellemeet und die öffentliche Meinung zu bestehen. Beiläufig entwickelt der Film dabei eine durchaus sinnvolle pädagogische Weisheit: dass man seinen Idealen nicht untreu werden darf, auch wenn man dafür manchmal gegen den Strom schwimmen muss. Und das sollten sich auch die Erwachsenen ruhig einmal hinter die Ohren schreiben.

„Die geheimnisvolle Minusch“ 10. 10.–16. 10. im Blow Up 1, Broadway C, Filmtheater am Friedrichshain 3, Kino Kiste; 13. 10. im Casablanca; 14. 10. im City Wedding

***

1974 fuhr Dokumentarfilmer Volker Koepp erstmals in die brandenburgische Provinz nach Wittstock, um das Leben der Textilarbeiterinnen Edith, Elsbeth und Renate aus dem VEB Obertrikotagen „Ernst Lück“ in drei Kurzfilmen zu beschreiben. Daraus entwickelte sich im Lauf der Jahre eine Langzeitdokumentation: Immer wieder kehrte Koepp zurück und erzählte in seinen Filmen von beruflichem Aufstieg, von privaten Hoffnungen und Rückschlägen seiner Protagonistinnen. „Wittstock, Wittstock“ entstand 1996: eine Rekapitulation von Geschichte und Geschichten, ergänzt um die Erfahrungen der drei Heldinnen aus der Zeit nach der „Wende“. Und die brachte den Damen beruflich nicht viel Gutes: Die Abwicklung des Bekleidungsbetriebes führte zu Arbeitslosigkeit, Umschulung, ABM-Maßnahmen und für Edith und ihren Mann sogar zum Wegzug aus Wittstock, um in Süddeutschland eine neue Arbeit zu suchen. Doch der von der Freundschaft und Vertrautheit zwischen Regisseur und den Frauen getragene Film verbreitet alles andere als Hoffnungslosigkeit: Denn Edith, Elsbeth und Renate trotzen auch den Herausforderungen des neuen Systems – zäh, humorvoll und ein wenig fatalistisch.

„Wittstock, Wittstock“ 14. 10., 16. 10. im Boerse Studio Kino, 15. 10. im Filmkunsthaus Babylon 1

LARS PENNING

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen