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Getürkte Argumente

Aus wohlverstandenem eigenem Interesse sollte die Europäische Union die Türkei aufnehmen – ihre junge, dynamische Gesellschaft wird der Gemeinschaft nutzen

Als Korrespondent wird man mit erstaunlichen Fragen über den türkischen Alltag konfrontiert

Es hat lange gedauert, aber dafür kommt es jetzt umso dicker. Jahre, fast jahrzehntelang, hat sich in Deutschland kaum jemand dafür interessiert, ob die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden soll oder nicht. Obschon der Assoziierungsvertrag mit der Türkei bereits 1963 abgeschlossen wurde, das Land bereits vor 15 Jahren seinen Antrag auf Vollmitgliedschaft eingereicht hat und das Parlament in Ankara 1995 die Zollunion mit der EU absegnete, scheint den meisten Mitgliedern des öffentlichen Debattierklubs erst jetzt klar zu werden, dass die Türken nach zwei vergeblichen Anläufen im 16. und 17. Jahrhundert nun erneut „vor Wien“ stehen.

Wer die Beiträge einiger deutscher Intellektueller im Vorfeld der Entscheidung der EU über einen möglichen Beginn von Beitrittsgesprächen mit der Türkei liest, muss tatsächlich den Eindruck bekommen, es gelte im letzten Moment die Notbremse vor einer asiatischen Übernahme des alten Kontinents zu ziehen. Da wird vorgerechnet, in welcher Geschwindigkeit die junge türkische Gesellschaft die alt gewordenen westeuropäischen Länder durch schiere Masse dominieren würde, da wird vor der Nivellierung demokratischer und menschenrechtlicher Standards in der gesamten Union gewarnt, die kulturelle Differenz wenn schon nicht aufgrund der Religion, so doch zumindest aufgrund unterschiedlicher historischer Erfahrungen beschworen und, als wenn das nicht schon längst genug wäre, zuletzt noch auf die garstige Nachbarschaft Iran und Irak gezeigt, die man sich doch nicht auch noch freiwillig einhandeln muss.

Es ist auch in Deutschland häufig gefordert worden, man solle endlich ehrlich sein und damit aufhören, der anderen Seite etwas vorzumachen. Das ist die richtige Parole, und es wäre schön, wenn diejenigen, die die Fahne der Ehrlichkeit hochhalten, in ihren eigenen Beiträgen damit beginnen würden. Kulturelle Differenz, unterschiedliche Geschichte, fehlendes christlich-antikes Menschenbild samt der dazugehörenden Aufklärung – das alles sind Argumente, die die eigentlichen Gründe der Ablehnung schlechter bedecken als ein zu kleiner Bikini.

Man stelle sich einmal vor, in Polen lebten nicht knapp 40 Millionen Menschen, sondern gut 70 Millionen mit steigender Tendenz. Gedanklich halbiere man dann noch einmal das jährliche Pro-Kopf-Einkommen und schlage noch eine stärkere nationalistische Bewegung als die ohnehin vorhandene drauf – wie sähe die polnische Beitrittsdebatte in Deutschland dann aus? Die gemeinsame Geschichte, der tiefe Katholizismus mit dem Papst als Sahnehäubchen, das gemeinsame antike Menschenbild, all das wäre längst untergegangen in der großen Angstkampagne: Hilfe, die Polacken kommen.

Wenn dies schon auf Polen zutrifft, gilt es erst recht für die Türkei. Selbst wenn die jetzt formulierten Bedenken gegen die Türkei ausgeräumt wären, das Land die Kopenhagener Kriterien erfüllt hätte, das Zypernproblem gelöst wäre und das türkische Militär sich auf sein Kerngeschäft zurückgezogen hätte, was spräche denn positiv für eine türkische EU-Mitgliedschaft?

Viele Argumentebedecken dieAblehnungsgründe schlechter als ein zu kleiner Bikini

Wenn türkische Politiker danach gefragt werden, verweisen sie auf die Versprechungen und Abmachungen, die die Türkei über Jahre und Jahrzehnte mit der EU getroffen hat. Es sei ihr Recht, hört man sie dann trotzig sagen. Sie würden ihren Teil der Abmachung einhalten, und nun sei die EU am Zug. Abgesehen davon, dass man natürlich immer darüber wird streiten können, ob ein Land den Ansprüchen an die Einhaltung der Menschrechte genügt (um nicht missverstanden zu werden – die Türkei genügt diesen Ansprüchen zur Zeit sicher nicht) ist dies natürlich ein schwaches Argument. Verträge sind eben nicht dazu da, um sie einzuhalten, wie unsere Lateiner immer mal wieder emphatisch behaupten, sondern sie werden den jeweiligen politischen Interessen gemäß zurechtgebogen oder gekündigt. Das zweite Argument aus türkischer Sicht ist die politische Geografie. Als Brückenkopf nach Asien und in die islamische Welt, sei die Türkei für die EU so wertvoll wie selten zuvor. Doch auch dieses Argument überzeugt zu Recht kaum jemanden. Das mag für die zunehmend in militärischen Kategorien denkenden USA richtig sein, für die EU stimmt natürlich viel mehr, was Exkanzlerkandidat Edmund Stoiber in dankenswerter Offenheit ausgesprochen hat: Gerade als Pufferstaat zu den Krisenherden im Nahen Osten und im Kaukasus ist die Türkei als Nicht-EU-Mitglied besonders wertvoll.

Warum also sollte man dennoch die Türkei auf mittlere Sicht in die EU aufnehmen? Aus wohlverstandenem eigenem Interesse natürlich. Die Debatte über den türkischen EU-Beitritt gleicht in verblüffender Weise der Diskussion um das Für und Wider von Einwanderung insgesamt, nur dass es jetzt um die europäische Ebene geht. Das ganze Gedröhn um Leitkultur, europäische Werte und kulturelle Identität wird letztlich hinter der pragmatischen Frage: „Nützt es uns, ja oder nein?“ verschwinden. So wie sich in Deutschland nach Jahrzehnten einer irrationalen Identitätsdebatte langsam die Erkenntnis durchsetzt, dass Einwanderung dem Einwanderungsland nützt, so wird sich früher oder später (aus türkischer Sicht leider erst später) in der EU die Erkenntnis durchsetzen, dass eine junge, dynamische Gesellschaft wie die türkische, der Gemeinschaft mehr nutzt, als sie ihr Probleme bereiten wird. In Deutschland kennt man die Türkei durch die türkischen Einwanderer und bestenfalls von einer Urlaubsreise. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welchen Fragen über den Alltag am Bosporus man als Korrespondent aus der Türkei konfrontiert wird. Haben die überhaupt elektrische Straßenlaternen? Was muss ich dort anziehen? Das Türkeibild in Deutschland hat über weite Strecken mit der Realität des Landes wenig zu tun. Also, trotz Folter, Fundamentalismus und unterdrückten Kurden; der ganz überwiegende Teil der türkischen Gesellschaft orientiert sich an Westeuropa, ist liebend gern bereit, die Regeln und Standards der EU zu akzeptieren, ist bildungshungrig und leistungsbereit und hofft, irgendwann endlich unter politischen Bedingungen zu leben, die es erlauben, das vorhandene Potenzial auch umzusetzen. Viele Türken begreifen sich als Europäer, allerdings immer mit dem Gefühl, Europäer zweiter Klasse zu sein. In dieser Nichtanerkennung liegt ein großer Teil der Animositäten begründet, und deshalb sind auch die Fortschrittsberichte, die Brüssel nach Ankara schickt, immer auch ein Test auf die europäische Haltung. „Wollen die uns überhaupt?“, fragt man sich hierzulande bei jeder Kritik als Erstes. Darin liegt das Problem, aber auch die Chance der EU-Politik gegenüber der Türkei. Im Gegensatz zu den Möglichkeiten der EU-Außenpolitik in anderen Weltgegenden, könnte die Gemeinschaft in der Türkei einen entscheidenden Beitrag zur positiven Entwicklung des Landes leisten – zu ihrem eigenen Gewinn. Ob die Türkei europäisch ist oder nicht, entscheidet nicht zuletzt die Haltung in der Europäischen Union.JÜRGEN GOTTSCHLICH

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