: Kein Ruhestand für das AKW im Rentenalter
Der Streit um die Stilllegung des AKW Obrigheim belastet weiter die Verhandlungen. Die Grünen sehen den Kanzler in der Bringschuld
BERLIN taz ■ Die Nachrichten dringen nur in verschlüsselter Form aus dem fest verschlossenen Saal: „Der Koffer von Herrn Baake steht noch oben.“ Stunde um Stunde verhandelte gestern die Runde der rot-grünen Top 8 über eine Stilllegung des AKW Obrigheim, doch eine Einigung kam nicht in Sicht. So wandelte sich der Aktenkoffer von Jürgen Trittins Staatssekretär Rainer Baake zum Gradmesser für den Stand der Verhandlungen. Solange die Sendboten der Koalitionäre zu berichten wussten, dass sich der Koffer (und mit ihm Trittins Experte für den Atomausstieg) noch im 6. Stock des Willy-Brandt-Hauses befanden, war dieser Knackpunkt ungelöst.
Streng genommen handelt es sich bei der Kontroverse um die Abschaltung des AKW mit bald 34 Jahren Laufzeit noch um eine Altlast der letzten Legislaturperiode. In die aktuellen Verhandlungen schaffte es der Atommeiler nur, weil er unvermutet zum Störfall zwischen Kanzler Gerhard Schröder und den Grünen wurde. Der Betreiber Energie Baden-Württemberg (EnBW) unter seinem Vorstandsvorsitzenden Gerhard Goll beruft sich auf eine angebliche Zusage des Kanzlers, den Betrieb um bis zu fünf Jahre verlängern zu dürfen. Nach den Regeln des Atomkonsenses steht die Stilllegung zum Jahresende an.
Eine Übertragung von Laufzeiten jüngerer Kraftwerke auf den Rentnerbetrieb Obrigheim setzt allerdings neben der Zustimmung des Kanzleramtes auch die des Wirtschafts- und Umweltministeriums voraus. Trittin und die Grünen waren früh zum Widerstand entschlossen. Der Grund war gestern im Regen vor dem Brandt-Haus zu besichtigen. „Wird jetzt abgeschaltet“, stand da mahnend auf einem Plakat mehrerer Greenpeace-Demonstranten, „oder ist alles Lüge?“ Gerade die Umweltverbände, die den rot-grünen Konsens mit der Atomindustrie stets skeptisch beäugten, fürchten eine Umkehr des Atomausstiegs: vom Einstieg in den Ausstieg zum Ausstieg aus dem Einstieg.
Bei der grünen Spitze waren die Warnungen angekommen. „Da könnte die Mehrheit auf dem Parteitag dran hängen“, hieß es im Verhandlungsteam in nüchterner Einschätzung der Stimmungslage an der Basis. Auf der Bundesdelegiertenkonferenz am kommenden Wochenende in Bremen hofft das Spitzenteam gleich zweimal auf Mehrheiten: Neben der Zustimmung zum Koalitionsvertrag steht auch die Zukunft der Parteichefs Claudia Roth und Fritz Kuhn auf dem Spiel. Sie haben in kaum verhohlener Weise die Fortsetzung ihrer Parteiarbeit an die Bereitschaft der Basis geknüpft, ihnen die Annahme ihrer Abgeordnetenmandate im Bundestag zu gestatten. Die Chancen für eine entsprechende Satzungsänderung dürften deutlich steigen, wenn Kuhn und Roth sich den Delegierten als Retter des Atomkonsenses empfehlen können.
Die Grünen lehnten es daher vor Beginn der Koalitionsrunde am Sonntag früh um 10 Uhr sogar ab, zur Laufzeit von Obrigheim eine Kompromisslinie zu benennen. „Wenn man mit einem Vorschlag von ein oder zwei Jahren reingeht, kommt man mit dem Drei- oder Vierfachen raus“, beschrieb ein Verhandler die Psychologie.
Die Grünen wähnten überdies die Rechtslage auf ihrer Seite. „Wenn man sich nicht einig wird, geht Obrigheim vom Netz“, so sehe es die Gesetzeslage vor. Schröders Zusage an EnBW-Chef Goll ist aus grüner Perspektive primär ein Problem des Kanzlers. „Wenn er sich gebunden fühlt, muss er jetzt mit einem Vorschlag rüberkommen“, sagte kühl ein Grüner.
Vorsorglich wies Staatssekretär Baake schon mal auf einen neuen Expertenbericht hin. „Zwischen 1991 und 2000 ist in Obrigheim ein gravierender Mangel nicht erkannt worden“, sagte er. Deswegen könnten die Auswirkungen eines Störfalls weit schlimmer sein als bisher angenommen. Baakes Botschaft an den Kanzler war eindeutig: Es gibt genug technische Gründe, eine Verlängerung der Laufzeit abzulehnen.“
PATRIK SCHWARZ
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen