: Kreuzberger Dialektik
Unser wildes, dunkles Leben: Ulrich Woelk unternimmt in seinem Roman „Die letzte Vorstellung“ eine Reise in die Vergangenheit der linken Szene
von DIRK KNIPPHALS
Dieser Roman hat einige Eigentümlichkeiten, an die man sich aber schnell gewöhnen kann. So ist er etwa mit einem gesteigerten Willen zu Sentenzen geschrieben. Er enthält viele Sätze wie den folgenden aus der Beschreibung einer Neubausiedlung: „Die Häuser folgten einander so regelmäßig wie junge Pflanzen in einem Beet, aus dem glückliche Familien sprießen sollten.“ Nicht schlecht gesehen; vor allem aber so aufgeschrieben, dass man die Stelle unwillkürlich mit einem Bleistift am Rand markieren möchte.
Es gibt viele solcher Stellen, durch sie bekommt diese Prosa etwas im guten Sinn Schwerfälliges: Ulrich Woelks Roman „Die letzte Vorstellung“ ist kein Buch, das fliegt – die Leichtigkeit, die den Vorgänger „Liebespaare“ über weite Strecken auszeichnete, geht ihm ab. Ein großer, gleichsam treuherziger Ernst schwebt über den Seiten.
Vollends irritierend ist auf den ersten Blick die Dramaturgie dieses Buches. Am Anfang ist ein Mord geschehen, am Schluss gibt es die Beerdigung des Ermordeten, dazwischen finden die polizeilichen Ermittlungen statt – die Spuren führen von Harde, im Friesischen, wo das Mordopfer lebte, in die Vergangenheit, nach Berlin, wo er lange gelebt hatte. „Die letzte Vorstellung“ hat einen beinahe klassischen Krimiplot; da der Roman auch wie eine Hommage an einen Whodunit-Krimi angelegt ist, empfiehlt es sich nicht, an dieser Stelle zu viel über die Tat und den Täter zu verraten.
Allerdings – und daher rührt die Irritation – hält Ulrich Woelk im Verlauf der Ermittlungen immer wieder die Handlung an. Anton Glauberg und Paula Reinhardt, die ermittelnden Beamten, reden dann mit Zeugen. Diese Gespräche haben die Tendenz, über den Zusammenhang des Mordfalls hinauszugehen. Wie Inseln in den Plot eingelassen, sind diese Gespräche die eigentlichen Höhepunkte des Romans. Eine Oper, Mozarts „Zauberflöte“, spielt in ihm eine gewichtige Rolle. Die Gespräche kann man beinahe wie Opernarien begreifen, in denen eine Figur ihr Inneres freigibt, ihre Beweggründe erklärt, bevor dann die Handlung wieder ihren Verlauf nimmt.
Bald wird klar, dass der hinter einem friesischen Deich Ermordete einst ein Mitglied der Roten Armee Fraktion war, das sich schließlich, um der Strafverfolgung zu entgehen, in die DDR absetzte. Die polizeilichen Ermittlungen führen in zwei Richtungen: in die ehemals linke Westberliner Szene der Sechziger- und Siebzigerjahre – sprich: in die Alt-68er-Szene –, in der sich der Ermorderte bewegt hatte; sowie in die Kreise, mit denen er in Ostberlin zu tun hatte, sprich: in die Stasi-Kreise.
Das Gespräch, das Glauberg und Reinhardt mit einem Ex-Stasi-Oberst – dem ehemaligen Führungsoffizier der Ehefrau des Ermordeten! – führen, ist ein absolutes Glanzstück. Woelk lässt ihn sehr geschickt alle dialektischen Manöver vollführen, um die Existenz von DDR und Stasi im Nachhinein zu rechtfertigen: „Die Menschen wissen bedauerlicherweise nicht immer, was gut für sie ist. Wir brauchen den Kommunismus nicht, weil die Menschen gleich sind, sondern weil sie ungleich sind.“ Inzwischen nutzt der Ex-Oberst seine vorzüglichen Kontakte in die ehemalige Sowjetunion für dubiose Import-Export-Geschäfte. Auch wenn man den Kapitalismus ablehnt, kann man rational genug sein, ihn für sich zu benutzen. Vorher hat Glauberg noch mit Veith Seewald gesprochen, einem Fotografen, der einst mit dem Ermordeten in einer, wie es damals hieß, Kommune zusammenlebte. Mit Fotos über das wilde Leben der Protestbewegung, die bei Illustrierten reißenden Absatz fanden, hat er viel Geld verdient. Jetzt bewohnt er die Kommunen-Wohnung für sich allein, das ausgebaute Dachgeschoss inklusive, beste Lage in Kreuzberg 36.
Das komplexeste Gespräch überhaupt findet mit einem Polizeispitzel in der heutigen linksalternativen Szene Berlins statt. Er versteht sich als Teil dieser Szene, lebt aber davon, sie zu observieren, und ist dann noch in der Lage, diese fast schizophrene Situation zu verbrämen: „Ich bin ein Schrotthaufen aus Informationen und Gegen-Informationen.“ Über ihn gibt es auch wieder eine dieser Sentenzen: „Er würde zwischen abgegriffenen Schallplatten und Büchern sterben, unverheiratet und kinderlos. Und er würde glauben, immer Recht gehabt zu haben.“
Man darf diese Gespräche – es gibt noch einige mehr – nicht als realistische Verhörsituationen lesen. Eher geht es Ulrich Woelk um Verdichtung: darum, mit dem jeweiligen Gesprächspartner eine exemplarische Lebenseinstellung, eine typische Bewusstseinslage zu skizzieren. Der Mordfall funktioniert als Katalysator, um Glauberg, den Moralisten, durch eine Szenerie aus Opportunisten, Karrieristen und hilflosen Ehefrauen zu schicken. Gegenüber dem eher lichten Roman „Liebespaare“ wirkt „Die letzte Vorstellung“ sehr düster. Ulrich Woelk hat diesmal einen Roman noir geschrieben. Es gibt in ihm viel Regen, viel Schlaflosigkeit, viel Herbst, viel moralisch Fragwürdiges. Und zu Hause, im friesischen Harde, wechseln ungerührt Ebbe und Flut.
Ulrich Woelk: „Die letzte Vorstellung“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2002, 304 S., 19,90 €
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