In der heilen Schattenwelt

Wenn deine beste Freundin zur Mörderin wird: Der amerikanische Kinder- und Jugendbuchautor R. L. Stine schürt mit seinen Megasellern aus der „Fear Street“-Reihe die Paranoia der Mittelschichtkids

von THOMAS WINKLER

Mitunter erfährt man Wundersames aus dem Guinnessbuch der Rekorde. So findet sich unter der Kategorie „Erfolgreichster Kinderbuchautor“ nicht etwa Joanne K. Rowling. Auch nicht Astrid Lindgren oder Enid Blyton. Der erfolgreichste Kinderbuchautor aller Zeiten heißt Robert Lawrence Stine. Mehr als 300 Millionen Exemplare hat der 59-jährige Schriftsteller aus New York verkauft, seine grob geschätzt 300 Bücher wurden zum Teil in 16 Sprachen übersetzt. Stine hat ein neues, erfolgreiches Genre begründet: real crime für Kinder und Jugendliche.

Mitte der Achtzigerjahre schrieb der damalige Redakteur eines Kindermagazins seinen ersten Horrorroman für Jugendliche. „Blind Date“ wurde ein Bestseller, und Stine erkannte, so erinnert er sich gern in Interviews, „dass ich den richtigen Ton getroffen hatte“. Also verkürzte er seinen Namen auf R. L. Stine und produzierte fortan teenage angst in Serie: „Fear Street“, die erste von mehreren Reihen, die unter seinem Namen veröffentlicht wurden, war geboren.

Zwei Wochen braucht Stine für ein Buch. Am Anfang steht stets ein griffiger Titel wie „The Last Scream“, „Bad Dreams“ oder „The Deadly Fire“, von dem aus er die Geschichten entwickelt. Ort der Handlung ist fast durchgängig Shadyside, eine typisierte amerikanische Kleinstadt. Dort gibt es eine High-School samt Basketballteam, eine Kirche und ein Krankenhaus und natürlich die titelgebende Fear Street, in der von Teenagern gelenkte Autos unvermittelt mit absterbendem Motor stehen bleiben. Am Ende der Fear Street warten – dem Genre angemessen – ein Friedhof und ein dunkler Wald.

Shadyside erinnert nicht zufällig an jene Kleinstädte, die man aus klassischen Horrorfilmen, vor allem aber aus den auf ein jugendliches Publikum zugeschnittenen Serials wie „Nightmare on Elm Street“ oder „Freitag der 13.“ kennt. In „Fear Street“ ist das Grauen jedoch niemals übersinnlich. Die Täter kommen nicht aus Zwischenwelten, sondern von nebenan. Aus der Schulkameradin mit einem „ansonsten netten, hübschen Gesicht“ wird im Showdown eine Serienkillerin mit einem „höhnischen, grausamen Lächeln“.

Fast immer stehen Mädchen im Zentrum der Geschichten. Sie sind strebsam, nett und arglos und bemerken wie Jill in dem Roman „Brandnarben“ meist zu spät, dass sich in der besten Freundin eine Ms. Hyde verbirgt. Reihum verdächtigt Jill alle Figuren, die todbringenden Feuer in Shadyside gelegt zu haben, bevor sich in einer letzten, gewalttätigen Konfrontation das Geheimnis auflöst.

Die Mordmotive stammen vorwiegend aus dem Arsenal des Groschenromans – oder sind, wenn man so will, Auswüchse einer pubertierenden Psyche: Eifersucht, verletzter Stolz und immer wieder entäuschte Liebe. Und manchmal müssen sogar nicht nur Teenager dran glauben, sondern es werden auch ein paar Hamster übel zugerichtet.

Die Protagonisten der „Fear Street“-Reihe werfen einen Blick auf die Schattenseiten der heilen Welt von Shadyside, und die Paranoia wird zur Regel. Alles, was nicht der Norm entspricht, ist verdächtig. So bedient Stine nicht nur menschliche Urängste, sondern auch den uramerikanischen Wertkonservatismus. Er lässt Außenseiter und Zugezogene auftreten, die die heile Welt von Shadyside durcheinander bringen und bildet damit die hormonelle Verunsicherung seiner pubertierenden Leserschaft ab: „Fear Street“ zielt auf den Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, auf die Zeit, in der die Welt beginnt kompliziert zu werden. Den ersten Brüchen und Ungereimtheiten gibt Stine breiten Raum, ohne jemals zu psychologisieren. Statt einer Katharsis bietet er die einfachste denkbare Lösung an – mit dem Tod eines Menschen erledigt sich auch das Problem.

Aber nicht nur die Nähe zur eigenen Erfahrungswelt macht „Fear Street“ für Teenager attraktiv. Stine erzählt seine Geschichten ohne Umschweife und Umwege und bedient sich dazu einer klaren, extrem simplen Sprache. Seine Sätze gleichen knappen Drehbuchanweisungen: Wer bedrohlich wirkt, „verengt seine Augen zu Schlitzen“, wer erschrickt, „tritt einen Schritt zurück“. Schatten entwickeln „ein Eigenleben“, Gesichter weiten sich „vor Entsetzen“: Es wird viel angedeutet und noch mehr suggeriert in Shadyside. Den Rest erledigt die Fantasie des Lesers, und die ist in diesem Alter bekanntermaßen lebhaft. Die Morde sind im Übrigen mitunter recht blutig, aber Stine legt Wert darauf, dass er keine Albträume bei seinen Lesern verursachen will, sondern nur ein Schaudern.

Längst hat Stine sein Erfolgsrezept erweitert. Mit neuen Reihen versorgt er andere Altersgruppen und Bedürfnisse: In der auch schon mehr als 60 Bände starken „Goosebumps“-Serie, als „Gänsehaut“ auf Deutsch erschienen, findet der Horror im Gegensatz zu „Fear Street“ nun auch übersinnliche Erklärungen. Da entpuppt sich schon mal der Bibliothekar als Monster, das Gymnasiasten verspeist und als kleine Zwischenmahlzeit Eisennägel knabbert.

Solcher Humor macht die „Gänsehaut“-Geschichten erträglich für die angepeilte Zielgruppe, die unter zehn Jahre alt ist. Weitere Reihen wie „Geisterstunde“ oder „Schattenwelt“ decken nahezu den gesamten, stark fragmentierten Markt der Kinder- und Jugendbuchliteratur ab. Wer nach zwei Jahren einer Serie entwachsen ist, wechselt zur nächsten Reihe. Das Label bleibt das Gleiche: „R. L. Stine“.

Gerade sind erschienen:R. L. Stine: „Fear Street: Mörderische Krallen“. Aus dem Amerikanischen von Johanna Ellsworth. Loewe Verlag, Bindlach 2002. 160 S., 6,90 €ĽR. L. Stine: „Fear Street: Racheengel“. Aus dem Amerikanischen von Sabine Tandetzke. Loewe Verlag, Bindlach 2002, 160 S., 6,90 €