„Migration ist ausgesprochen heroisch“

Auf der Suche nach größerer politischer und repräsentativer Trennschärfe: Der israelische Filmemacher Eyal Sivan über das Mitleid mit Flüchtlingen, den Mut zur Eigeninitiative bei Migranten und die Probleme bei der Darstellung von Entwurzelung und Vertreibung im Israel-Palästina-Konflikt

Interview CRISTINA NORD

taz: Herr Sivan, Sie haben am Wochenende an einer Veranstaltung der Berliner Volksbühne teilgenommen. Es ging um Flucht und Migration, diskutiert wurde an sechs Orten gleichzeitig – in Glashäusern, die als Bühnenbild unter anderem für „Der Idiot“ entworfen wurden. Welchen Eindruck machte das auf Sie?

Eyal Sivan: Es war eine Überraschung, eine Art postmoderne intellektuelle Peep-Show. Man saß wie in Aquarien, alle Leute trugen Kopfhörer. Das war interessant, aber ich frage mich, ob es die Debatte fördert.

Die Veranstaltung fokussierte den Migranten, eine Figur, die gemeinhin als Opfer wahrgenommen wird. Welches Bedürfnis steckt dahinter?

Wir sollten die Begriffe Flüchtling und Migrant auseinander halten. Flüchtlinge gibt es, weil es politische Verbrechen und Verfolgung gibt. Es handelt sich um einen unfreiwilligen Akt. Bei Migration mögen wir zwar den Eindruck haben, dass sie mit Verlust und Selbstverleugnung verbunden ist. Doch Migration ist etwas ausgesprochen Heroisches: Man nimmt sein Schicksal in die eigenen Hand.

Der Migrant ist das Gegenteil eines Opfers?

Genau. In urbanen Gesellschaften ist er die heroische Figur. Der Flüchtling ist derjenige, der zum Objekt unserer christlich-jüdischen Wohltätigkeit wird. Dagegen verweigert sich der Migrant.

Aber wie oft wird er als der Leidende dargestellt und dementsprechend – ob im Diskurs oder in der politischen Arbeit – mit Wohltätigkeit bedacht!

Es gibt ein afrikanisches Sprichwort: Zu geben schafft Zufriedenheit, zu nehmen demütigt. Den Migranten auf Entwurzelung, auf Exil zu reduzieren, trifft sich mit einem Bedürfnis, das auch in säkularen Gesellschaften noch existiert: Man will wohltätig sein. Das führt unweigerlich zu der Frage, welche Funktion es erfüllt, wenn der Migrant als Opfer dargestellt wird.

Offenbar eine Missrepräsentation.

Ja. Die christlich-jüdische Kultur basiert auf der Figur des Opfers und auf Mitleid. Es gibt diese Ikone, den Mann – übrigens einen Juden –, der für mich leidet und mich reinigt. Das kontinuierliche Bedürfnis, den Anderen als Opfer darzustellen, rührt daher, dass es nicht länger um Mitleid, sondern um Verantwortung ginge, sobald der Andere meinem Bild gliche. Eine religiöse Gesellschaft braucht die Figur des Opfers; eine säkulare Gesellschaft, die die religiöse Symbolik nicht ganz hinter sich lässt, schafft sie sich. Erst eine säkulare, moderne Gesellschaft akzeptiert es, Täter darzustellen.

Wie übersetzen Sie diese Gedanken in bewegte Bilder?

Ich habe eine Art Labor, das heißt Israel/Palästina. Es versorgt mich mit Themen: Was ist Verantwortung? Was ist ein Täter? Welche politische Funktion hat Erinnerung? Wie funktionieren politische Verbrechen, Vertreibung, Segregation? Seit 18 Jahren dekliniere ich diese Fragen durch, zugleich befrage ich meine Arbeitsmittel: Was ist ein Bild? Was ist seine Funktion? Was gilt als wahr, was als gelogen?

Geben Sie mir Beispiele für diese Ebene der Selbstreflexion.

Fast alle meine Filme beginnen damit, dass auf die Anwesenheit der Kamera hingewiesen wird. Es tritt jemand auf, der sich damit auseinander setzt, dass ich filme. „Aqabat Jaber – Passing Through“ fängt mit einem Mann an, der sagt: „Die drehen und schicken die Bilder nach Amerika.“ An einer anderen Stelle heißt es: „Lass uns in Ruhe, wir sind nicht deine Schauspieler!“ Oder umgekehrt: „Hey, schaut alle in die Kamera, die bringt uns in den Westen!“

Am Ende von „Aqabat Jaber“ hält eine ältere Frau ein Polaroid in der Hand und schaut sich an, wie ihr Bild entsteht.

Das ist doppelt wichtig: Zum einen, weil sie, als Närrin, darauf hinweist, dass das Flüchtlingslager ein Dorf geworden ist. Denn wo es einen Narr gibt, existiert ein Dorf. Zum anderen, weil es den Prozess der Bildwerdung widerspiegelt: Am Anfang ist eine weiße Fläche. Dann schafft man einen Rahmen, in dem Rahmen erscheint etwas, und in dem Augenblick habe ich eine Darstellung dessen, was ich als Filmemacher tue. Was geschieht dann? Sie kommt zu mir und sagt: „Ich will mehr Polaroids!“

In „Itsembatsemba Rwanda, One Genocide Later“ und auch in den Dokumentationen, die Sie in „Aqabat Jaber“ gedreht haben, spielen Zeit und Dauer eine wichtige Rolle.

Im Fall von „Aqabat Jaber“ war meine Sorge, wie man die Beziehung, die der Zuschauer zur Zeit hat, mit der des Flüchtlings verbinden kann, wie man zwischen beiden einen Dialog schaffen kann. Welche Mise en Scène ist dazu nötig? Wie stelle ich Warten dar? Denn das ist es ja, was die Existenz des Flüchtlings ausmacht. Als Betrachter des Films wartet man also darauf, dass etwas geschieht, während der Flüchtling darauf wartet, zurückkehren zu können.