„Möglichkeiten erweitern, gegen EU-Verordnungen zu klagen“

Ninon Colneric, die deutsche Richterin am EuGH, will das europäische Rechtsschutzsystem reformieren. Der Weg nach Luxemburg soll den BürgerInnen erleichtert werden

taz: Frau Colneric, die EU will sich eine Verfassung mit Grundrechtsteil geben. Wie hat es Eu ropa so lange ohne Grundrechte ausgehalten?

Ninon Colneric: Auch bisher war die Europäische Union keine grundrechtsfreie Zone. Der Europäische Gerichtshof hat in mehr als 30 Jahren selbst einen Grundrechtsschutz entwickelt, der sich mit dem der Mitgliedsstaaten durchaus messen kann. Er hat sich dabei vor allem an der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats und den nationalen Verfassungstraditionen der 15 EU-Mitgliedstaaten orientiert.

Man hat aber nicht viel gehört von Grundrechtsschutz.

Es gibt zum Beispiel eine umfangreiche Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Diskriminierungsverboten des Gemeinschaftsrechts. Allerdings hatte der Gerichtshof nur sehr selten über Fälle mit Grundrechtsbezug zu entscheiden.

Was würde sich ändern, wenn die vor zwei Jahren ausgearbeitete Grundrechtecharta verbindlich würde?

Der Grundrechtsschutz würde auf diesem Text basieren, den der Gerichtshof auszulegen hätte.

Können die BürgerInnen, wenn sie ihre Grundrechte durch EU-Rechtsakte bedroht sehen, künftig einfach den EuGH anrufen?

Die Charta selbst sieht keinen speziellen Rechtsschutzmechanismus vor. Hierüber verhandelt derzeit noch der Verfassungskonvent in Brüssel.

Würden Sie eine europäische Verfassungsbeschwerde – oder Chartabeschwerde – begrüßen?

Ich halte es nicht für sinnvoll, für den Schutz der EU-Grundrechte eine besondere Verfahrensart einzuführen. Eine Verfassungsbeschwerde nach deutschem Muster würde bei der EU-Gerichtsbarkeit wie beim Bundesverfassungsgericht zu einer Situation massiver Überlastung führen. Der Rechtsschutz sollte aber unabhängig davon, ob es sich um Grundrechte oder um einfache Rechte handelt, verbessert werden.

Was schlagen Sie vor?

Ich denke dabei an zweierlei. Wenn ein letztinstanzlich entscheidendes nationales Gericht Auslegungsfragen, die es eigentlich dem EuGH zur Beantwortung vorlegen müsste, selbst entscheidet, sollte es die Möglichkeit geben, hiergegen eine Beschwerde beim EuGH einzulegen. Außerdem sollten die Möglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger, gegen EU-Verordnungen, die sie betreffen, Klage vor dem Europäischen Gericht erster Instanz zu erheben, erheblich erweitert werden. Bisher sind solche Klagen nur unter außerordentlich engen Voraussetzungen zulässig.

Mit der Grundrechtecharta hat dieser Reformvorschlag aber nichts zu tun?

Nicht direkt, eine derartige Reform würde allerdings auch das Einklagen von EU-Grundrechten erleichtern. Man könnte sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Diskutiert wird auch darüber, ob die EU die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterzeichnen soll. Was würde sich dadurch ändern?

Die EU könnte dann vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verklagt werden, zum Beispiel wenn jemand meint, dass ihn ein Urteil des EuGH in seinen Menschenrechten verletzt.

Fänden Sie es gut, wenn es über dem EuGH noch eine Instanz gäbe?

Im Prinzip halte ich eine externe Kontrolle für sinnvoll. Der EuGH wäre dann in der gleichen Situation wie etwa das deutsche Bundesverfassungsgericht. Ich sehe allerdings die Gefahr, dass die Prozesse insgesamt übermäßig lang werden, was im Widerspruch zu dem Grundrecht auf eine angemessene Verfahrensdauer stehen kann.

Und welches Recht würde der EuGH dann anwenden: die EU-Grundrechtecharta oder die Europäische Menschenrechtskonvention?

Der EuGH würde die EU-Grundrechtecharta im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention auslegen.

INTERVIEW: CHRISTIAN RATH