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strafplanet erde: das protestantische knie (2) von DIETRICH ZUR NEDDEN

Vor kurzem schrieb ich über mein Knie. Aus gegebenem Anlass: heikle Operation, angeblicher Routineeingriff am Meniskus. Von wegen Routine!

Die Flucht ins Gedruckte: Auf den ersten Blick mysteriös die Auskunft des seriösen Nachschlagewerkes, das Knie habe als „Geburtsorgan“ symbolische Bedeutung. Wenn man jetzt aber mal einen Zusammenhang zwischen Geburt und Sexualität sehen will, wird’s deutlicher. Schlagertitel wie „Was machst du mit dem Knie, lieber Hans?“ und „Ich hab’ dein Knie gesehen“ sind nahezu eindeutige Beweise, aber auch die Beschimpfung „Fick dich ins Knie!“ passt. Im Englischen gab es mal den Slangausdruck „to break one’s knee“, der „geschwängert werden“ bedeutete. Inwieweit jedoch das Diktum des Schamanen Joseph Beuys („Ich denke sowieso mit dem Knie“) hierher gehört, vermag ich nicht zu entscheiden. Abermals das Symbolik-Lexikon vermeldet, ethymologisch aufschlussreich sei die Zusammengehörigkeit von Knie mit lateinisch genu (Knie) und den damit verwandten Wörtern für „Geschlecht“ und „erkennen“ und „geboren werden“.

Diametral wie auch parallel dazu hegte ich in der albernsten Infantilität eine massive Narkosephobie, die mit jeder Minute wuchs. Denn wie viel blindes Vertrauen braucht doch das neuzeitliche Leben! Vertrauen in den Piloten zum Beispiel, der dich tausende von Kilometern weit weg bringt; in den Pizzabäcker, dass er auf deine Margherita keine Popel schmiert; in die Änesthesistin, die bitte, bitte genauestens dosieren möge und nicht in Gedanken die Details irgendeiner Hochzeitsfeier durchgeht.

So gut wie ausgeschlossen sind mittlerweile Pannen bei der Betäubung, gewiss, aber zur Wahrscheinlichkeit, das steht schon bei Aristoteles, gehört auch, dass das Unwahrscheinliche eintreten kann. Mit anderen Worten: Angst vor der Ohnmacht. Und ich dachte an Anthony Burgess, der sich an den Augenblick erinnert, als die Ärzte ihm „noch ein Jahr zu leben“ gaben. Wenn die Prognose stimmte, schreibt Burgess, „dann hatte ich etwas, was ich nie vorher garantiert bekommen hatte: ein ganzes Jahr zu leben. Ich würde morgen nicht von einem Bus überfahren werden, noch auf der Rennbahn in Brighton niedergestochen. Wenn ich ins winterliche Meer fiele, würde ich nicht ertrinken. Ich hatte ein ganzes Jahr, eine lange Zeit.“ Er wurde Schriftsteller und schrieb innerhalb eines Jahres mehrere Romane.

Die Uhr tickte, und ich nicht mehr ganz richtig. Am Morgen des fraglichen Tages stand in der Zeitung eine Kino-Anzeige: „Insomnia – Schlaf nicht ein, wenn du überleben willst“. Der nächste Wink auf dem Weg zur Klinik. Die ganze Zeit fuhr ein Lkw vor uns her, auf dem die „kostenlose Abholung von Gebrauchtmöbeln“ annonciert war. Was würde mit meinem Schreibtisch, mit meinen Büchern geschehen? Drittens ging mir die letzte Szene aus dem Science-Fiction-Film „Soylent Green“ nicht aus dem Kopf, in der Edward G. Robinson sich in das Hospital verfügt, wo die Alten ihre letale Injektion inklusive Wunschfilm erwartet.

Und dann ist alles bestens verlaufen.

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