: Familienurlaub mit Folgen
„Romance“-Regisseurin Catherine Breillat schärft die Sinne und keult dramaturgisch aus: Das Schwesterndrama „A ma soeur!“ endet so spektakulär wie es zuvor um Genauigkeit bemüht war
von URS RICHTER
Das Ende darf man nicht verraten. Heißt es, wegen der Spannung. Hier ist das Ende ein Ausrufezeichen. Auch hinterm Filmtitel steht eins: A ma soeur! hat Catherine Breillat ihren jüngsten Film genannt. Ein Ausrufezeichen ändert den Sinn des Vorangegangenen. Vorangegangen ist ein Familienurlaub am Meer.
Mama, Papa, Anais, 12 Jahre, rosa, fett, morbide und dann Elena, 15, sehr hübsch, gemein und frisch defloriert. Die Mutter fürchtet einen Skandal und fährt mit den Töchtern heim. Auf einem Rastplatz machen sie Pause. Ein Beil kracht durch die Windschutzscheibe und bohrt sich in Elenas Kopf. Schmutzige Männerhände erwürgen die Mutter. Anais wird missbraucht. Später führt ein Polizist sie davon. „Sie sagt, sie wurde nicht vergewaltigt“, beteuert er dem Kommissar. „Das brauchen Sie mir nicht zu glauben“, korrigiert Anais und schaut dabei uns an. Das ist das Ende.
Was immer Catherine Breillat beabsichtigt hat mit solchem Schock, er überlagert das Gesehene und zwingt von hinten her wieder von vorne nachzudenken über ihren Film. Zwei heranwachsende Schwestern hat man erlebt, die endlich eine Erfahrung für sich alleine besitzen wollen und doch alles teilen müssen. Zwei Schwestern, die sich dem bloßen Blick unterschiedlicher nicht darstellen könnten und doch stets mit vollziehen, was in der anderen vorgeht. Während die ältere Elena sich zum halbherzigen Beischlaf überwindet, nachdem sie vom Lover Liebesschwüre erpresst hat, rollt Anais im selben Hotelzimmer ihre Körpermasse an die Wand und weint. Ob sie Neid empfindet, Zorn, oder ob sie den unausweichlichen Liebeskummer der Schwester gleichsam vorwegnimmt, bleibt offen.
Auch ihr Hin und Her aus Gemeinheiten kann die Schwestern nicht auseinander bringen. Eben noch schiebt Elena der beleidigten Anais in einer bitterbösen Geste von Besorgnis einen fetten Schokoriegel in den Mund, dann stehen beide Wange an Wange vor dem Badezimmerspiegel und erläutern sich hellsichtig ihre Beziehung. Elena, ihrer Flittchenrolle wohl gewahr, und Anais, zu abgeklärt und schlau für ihr Alter. Wenn die Schwestern gemeinsam im Bett liegen und sich kichernd bittere Wahrheiten an den Kopf werfen, entsteht eine Situation, die schon das Zuschauen beklemmend macht. Wenn der italienische Student quälend lange an Elena herumnestelt, verliert man, wie Anais im Bett gegenüber, allen Glauben an Romantik.
Die Momente sind von derart disziplinierter Emotionalität, dass sie die hysterische Sexfixierung in Breillats letztem Film Romance (1998) vergessen machen. Breillat gibt sich und ihren Darstellern alle Zeit der Welt, das Filmmaterial und die Dialoge sind grobkörnig, und inmitten der inszenatorischen Rohheit weiß man plötzlich, wie fürchterlich die Jugend ist, das erste Mal, die große Verzweiflung.
So geschickt Breillat als Psychologin waltet, dramaturgisch keilt sie aus. Nach dem vorzeitigen Urlaubsende sitzen die Mädchen plärrend im Wagen, die Mutter, dargeboten von der notorisch exaltierten Arsinée Khanjian, gurkt kettenrauchend über die Autobahn. Rechts ein LKW, links ein LKW, Dröhnen, Hupen, Nieselregen, es wird böse enden, das wissen wir aus zweitklassigen Slashermovies.
Warum aber dieser Abgrund an Bösem? Der dramaturgische Keulenschlag betäubt alle Sensoren, die Breillat vorher zu schärfen zwang – für die feinen Unterschiede zwischen Rollenklischees, deren Parodie und dem wahren Kern in jeder Maskerade. Er nivelliert, was vorher so sorgsam auseinanderdividiert wurde: Begehren und Hingabe, Lust und Verletzung, Einverständnis und Gewalt.
Will der Film behaupten, die Verführung sei kaum weniger schlimm als der Missbrauch? Alle Männer sind Schweine, läuft‘s am plumpen Ende darauf hinaus? Oder ist die Horrorshow Anais Rachephantasie, ein schlechter Gag, um einen Schluss zu finden? Gibt es überhaupt zwei Schwestern, oder nur zwei Seelen, ach, in einer Brust? Wäre A ma soeur! also das grausame Märchen vom Schatten junger Mädchenblüte? Es ist ärgerlich, dass Breillat durch die Verweigerung der Antwort so offensichtlich auf die komplette Verstörung ihres Publikums spekuliert. Den Trick hätte sie nicht nötig gehabt, und ihr schöner Film hat ihn nicht verdient.
Fr, 17 Uhr, Di + Mi, 21.15 Uhr, Metropolis; ab 31.10. täglich, 20.30 Uhr, 3001
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