Radikal ist scheißegal

Schau mir in die Augen, Kant: In „Sich bestimmen lassen“ hält Martin Seel stets die Mitte. Ganz nebenbei erklärt der Philosoph sein Bogart-Theorem

von DAVID LAUER

„Ich will auch mal bestimmen!“, kräht es, wenn Kinder im Spiel aneinander geraten. Aber jeder Mensch muss lernen, dass dem Bestimmen Grenzen gesetzt sind. Nicht nur, weil man auch mal die anderen bestimmen lassen muss. Sondern weil man etwas überhaupt nur bestimmen kann, wenn und insofern man sich gleichzeitig bestimmen lässt: „Indem wir bestimmen, lassen wir uns bestimmen“, so Martin Seel, Philosophieprofessor an der Universität Gießen, in seinem jüngsten Buch. Bestimmen und sich bestimmen lassen deutet er als zwei Seiten einer Medaille.

Dieses Leitmotiv wird in sechzehn versammelten Abhandlungen umspielt, zum Beispiel anhand des erkenntnistheoretischen Streits zwischen Realismus und Konstruktivismus: Lassen wir uns in unserer Erkenntnis bestimmen von einer objektiven Welt, oder sind es vielmehr wir selbst, die konstruierend bestimmen, was als Realität zählt? Seels Sport ist die Zurückweisung solcher falscher Alternativen. Einerseits verdankt sich unser Bestimmen einem vorgängigen, doppelten Sichbestimmenlassen „durch Medien und Materien“: Die Medien unseres Bestimmens (vorrangig die Sprache) bestimmen, welche Aspekte der Welt uns überhaupt zur Erscheinung kommen, und die materiale Verfassung dieser Welt bestimmt, was wir zutreffend über sie sagen können. Andererseits heißt das nicht, dass wir gar nichts mehr zu bestimmen hätten: Vielmehr ist es erst das Sicheinlassen auf das Bestimmtsein durch Sprache und Welt, innerhalb dessen sich uns die praktisch unbegrenzten Möglichkeiten des Erkennens, Sprechens und Handelns auftun.

In den Studien zur Ethik und politischen Philosophie wendet Seel das Motiv auf den sich selbst bestimmenden und selbstbestimmten Menschen an: Hier steht das Sichbestimmenlassen durch Begierden und Vorlieben im Vordergrund, von denen wir uns unentrinnbar bestimmt finden. Ein absolutes Sich-selbst-Bestimmen ist daher Illusion. Und doch gibt es Freiheit: Freies, selbstbestimmtes Handeln besteht darin, sich nur aus eigener Bestimmung bestimmen zu lassen, also von den Bestimmungen, von denen man bestimmt sein will – und damit festzulegen, wer man eigentlich sein will.

Martin Seel erweist sich in diesem Buch erneut als einer der denkerisch eigenständigsten jüngeren Philosophen in Deutschland. Darüber hinaus vereinen seine besten Texte wissenschaftliche Präzision mit einer gelassenen Allgemeinverständlichkeit und der literarischen Brillanz, die man aus seinen Kolumnen für Merkur und Zeit kennt. Im Durchgang durch eine imposante Fülle philosophischer Thematiken zelebriert er sein entschlossenes „Weder-noch“, beträufelt mit süßem Spott für jene, die „ein Faible für radikale Lösungen haben“, und erst recht für jene, „die glauben, dass die Philosophie ein solches Faible ist“. Während jene Radikalen zu beiden Seiten von den einschlägigen Seeungeheuern Skylla und Charybdis verschlungen werden, fährt der listenreiche Seel geradewegs zwischen Konstruktivismus und Realismus, zwischen Subjekt und Diskurs, zwischen Universalismus und Relativismus, zwischen Gerechtigkeit und dem guten Leben hindurch.

Allerdings droht dieser Gestus gelegentlich zur Pose zu erstarren, denn Seel befindet sich keineswegs allein auf dieser Passage. Die Aufhebung unfruchtbar gewordener Gegensätze ist vielmehr ein Kurs, auf den ganze philosophische Flotten eingeschwenkt zu sein scheinen (wie Seel selbst einmal in Auseinandersetzung mit einem seiner Opponenten, dem Berliner Philosophen Günter Abel, bemerkt hat). Und natürlich führt gerade diese Art von Philosophie der Neuen Mitte dazu, dass der Nahrungsnachschub für Skylla und Charybdis nicht abreißt, weil bei dem entstehenden Gedrängel die nachstoßenden Kähne sich gegenseitig unweigerlich links und rechts gegen die Klippen schieben.

Allerdings ist Seel ein Skipper, dem vor all dem nicht bange zu sein braucht. Nicht viele beherrschen ihr Boot so gut, dass sie wie er auf fährnisreichem Törn nebenbei noch die Frage beantworten können, warum wir Ingrid Bergman in „Casablanca“ eher dem zynischen und lasterhaften Rick Blaine als dem heiligmäßigen Tugendbold Viktor Laszlo gönnen.

Nach dem „Bogart-Theorem“ handelt Blaine moralisch gut, aber nicht, weil er sich von einem allgemeinen Sittengesetz verpflichtet sähe, sondern weil er nur so als die Person, die er sein will, ein gutes Leben führen kann. Er folgt allein seinem Belieben, aber „sein Belieben ist so verfasst, dass er es nicht ausstehen kann, wenn anderen mit Gewalt die Freiheit ihres Beliebens genommen wird“. Seels Erzählung, warum solche „ironischen Amoralisten“ nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch besser sind als die „reinen Guten“, ist ein funkelndes Kabinettstückchen.

Seels Band ist in sich geschlossen, weil durch die Variationen des Leitmotivs in den verschiedenen Stimmen ein alles grundierendes Thema vernehmbar wird. Am Flügel sitzt plötzlich der ehrwürdige Kant und spielt es noch einmal: „The fundamental things apply …“, denn hinter der Vielzahl der hier thematisierten Fragen geht es eigentlich um ein Bild des Menschen und seines Seins in der Welt. Das autonome Subjekt, dieses Kind, das alles bestimmen zu können glaubte, ist von uns gegangen. Aber wir sollten uns deswegen nicht lustvoll schaudernd oder panisch zeternd in Fantasien ergehen, dass wir in allem immer schon restlos bestimmt seien (durch Sprache, Kultur, Begehren, Gene). Vielmehr kommt es darauf an, das Menschsein illusionslos als „unabschließbaren Prozess der Selbstlenkung“ zwischen Bestimmen und Sichbestimmenlassen anzuerkennen – mit der Hoffnung, sich aufgrund freien Bestimmens „in Situationen zu finden, von denen man bestimmt sein möchte“.

Wer also demnächst mal wieder zwischen Skylla und Charybdis unterwegs ist, der sollte auf einen Gin im Café Américain Halt machen. Dort, an einem bestimmten Tisch gleich neben dem Flügel, sitzt ein schöner Seel und schaut dem Menschen in die Augen.

Martin Seel: „Sich bestimmen lassen“. Frankfurt a. M. 2002, 300 Seiten, 11 €