: Tiefer Background
Mit „Richard III.“ eröffnet Stefan Pucher die Sparsaison im Schauspielhaus Zürich. Die Entscheidung über Marthalers Zukunft wurde verschoben
von TOBI MÜLLER
Was ist das größte Problem eines Schausp…? Timing! Dieser Kalauer kursiert nicht nur über Schauspieler, er geht auch mit Schlagzeugern. Oder mit Verwaltungsräten. Zum Beispiel der Schauspielhaus AG in Zürich. Der Schauspieler Robert Hunger-Bühler gibt den Bösewicht Richard III. zur verspäteten, weil billigeren Spielzeit. Richard ist der Schauspieler schlechthin unter den kanonisierten Dramenfiguren. Nur hat er eben wenig Timingprobleme.
Auch wenn die Schweiz gern als Diktatur des zwanghaft Moderaten verstanden wird, wollen wir im Theater jetzt nicht Ostblockverhältnisse des zwanghaft Metaphorischen wiederherstellen. Im Sinne von: Richard III., das ist der Verwaltungsratspräsident Peter Nobel, der Marthaler-Mörder! Schon deshalb nicht, weil Peter Nobel, der den Direktor geschasst hat, tatsächlich etwas klein und knorrig geraten ist. Oder leicht bucklig. So halt, wie Richard III. mit Vorliebe verkörpert wird. Man muss das aus dem Weg räumen, weil es in der Luft liegt, an einer Premiere wie dieser, wo einfach alles in der Luft liegt: spielen, schlagen, verwalten.
Das geht schon seit zwei Monaten so. Weil der Verwaltungsrat ein massives Timingproblem hat. Erst wird der Direktor übers Wochenende entlassen, dann fegt ein Sturm der Entrüstung durch die Stadt. Ältere Herren mit Vergangenheit erinnern sich an diese, krempeln das rosa Hemd zurück und machen auf Opposition: Damit Marthaler bleibt! Der Verwaltungsrat ist unter Druck. Man könne jetzt verhandeln, unter gewissen Umständen. Umstände sind teuer, 3,5 Millionen Schweizer Franken sollten die älteren Herren mit Vergangenheit auftreiben in der entrüsteten Öffentlichkeit. Entrüstung kostet eben auch. – Der Verwaltungsrat probte sein Spiel zu wenig. Er kündete die Entscheidung über eine allfällige vierte, vielleicht sogar fünfte Spielzeit auf Ende September an (weil er keine Nachfolge fand für die nächste). Seit Monaten war indes klar, dass Christoph Marthaler just in dieser Zeit in den Münchner Endproben von Elfriede Jelineks „In den Alpen“ stehen wür… Timing! Dann wollte man am letzten Donnerstag informieren und merkte zwei Tage vorher, dass an diesem Tag die Spielzeit endlich eröffnet werden sollte.
Am Recherchetelefon hatten – auf beiden Seiten – fremdsprachige Markierungen Konjunktur, die markieren sollten, dass nichts markiert werden durfte: „off the record“, „entre nous“, „deep background“. Klar wurde bloß, dass das Resultat der Verhandlungen nur noch von gegenseitiger Gesichtswahrung abhing. Wenn der Verwaltungsrat seinen Entlassungsentscheid zurücknimmt, muss er es schaffen, trotzdem noch als Abstrafer im Gedächtnis zu bleiben. Und wenn Marthaler bleiben sollte, will er nicht als reuiger Schuljunge weitermachen, der jetzt seine finanziellen Hausaufgaben brav abliefert. Informiert wird am nächsten Montag.
Gesichtswahrung, Kosmetik, Kommunikation: Das sind zwar oberflächliche, gleichzeitig aber zentrale Faktoren in diesem Spiel. Und jetzt muss man nichts mehr hinbiegen, um zu Shakespeares „Richard III.“ zu gelanden, insbesondere in Stefan Puchers Inszenierung. Erstens weil sich bei Pucher der Hof in der Dauerkrise dandyhaft herauspützelt, in imaginären Spiegeln betrachtet und jede Etikette entweder als Farce oder dann als entleertes Zitat brandmarkt: Fin de siècle in der Austattung und in den Kostümen (Barbara Ehnes, Silvia Hasenclever), Film in Sprechweisen und Synchronisationsverfahren. Und zweitens, weil der entstellte Richard bei Pucher gerade kein versehrter ist.
Robert Hunger-Bühler gehört zu den, wie man so sagt, virtuosen Schauspielern. Die dunkle, doch brüchige und leise Stimme, der ungerichtete Blick, eine präzise, höchst artifizielle Textgestaltung. Extrem kontrolliert, extrem virtuos, extrem eitel. Richard mit einem Schauspieler zu besetzen, dem man jede Sekunde ansieht, dass er ein Schauspieler ist, hat gute Gründe. Weil Richard von Gloucester ein gekennzeichneter Schauspieler sein muss, weil er sonst – wie der Text es will – seine körperlichen Schwächen nicht spielend (und mordend) überwinden könnte. Wenn er am Anfang sagt, er sei roh gehauen, und dabei den in den Zuschauerraum hineinragenden Steg betritt, klafft die Lücke der Erkenntnis bereits tief. Denn dieser Richard ist ein ganz graziler, feiner. Ein Schauspieler, der in der Differenz zum Text die Konturen sucht, und nicht in der drastischen Überhöhung, in der Abbildung. Das ist natürlich grausam, weil so gewöhnlich: Welcher Chef von Ihnen war je bucklig, sabbernd und immer besoffen?
Das macht Puchers Aufführung bereits lohnenswert, und zwar ganz abgesehen davon, ob man „virtuose Schauspielerei“ mag oder nicht. Denn sie ist Konzept. Gegen Ende nähert sich der Rivale Richmond. Er darf jetzt auch auf den Steg. Er kämpft mit einer Stimme, die nicht ihm gehört: Es ist jene Christian Brückners auf Band. Brückner ist die deutsche Stimme Robert de Niros. Und so sieht Richmond auch ein wenig aus. Er wird Richard davonjagen. Trotz schlechten Timings in der Synchronisation mit der Leihstimme. Ein Königreich für eine pomadige Mafiatolle, für einen Anzug, für ein Filmzitat. Für Style. Für ein Gesicht, das gewahrt werden will.
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