: Urinhandel als Zukunftsbranche
Die Bayer AG bekommt den „Big Brother Award“, weil sie das Urin der Auszubildenden auf Drogen testet
Die meisten der am vergangenen Freitag in Bielefeld mit dem „Big Brother Award“ (BBA) ausgezeichneten „Datenkraken“ verzichten auf eine bewusste Mitwirkung ihrer Opfer. Viel lieber spähen die vom Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs Prämierten im Geheimen (BKA), häufen ohne rechtliche Grundlage Daten an (Bundesrat) oder arbeiten mit verklausulierten „Double optout“-Bedingungen (Deutsche Post AG).
Nicht so die Bayer AG, die ihren Preis in der Kategorie Arbeitswelt erhalten hat. Und zwar für die obligatorische Praxis, Auszubildende vor der Einstellung einem so genannten Drogenscreening zu unterziehen. Für Rena Tangens, Laudatorin der BBA-Jury, zeugen die Tests von einem grundsätzlichen Misstrauen der Unternehmensleitung gegenüber den potenziellen Mitarbeitern. Generalverdacht für alle statt Unschuldsvermutung, wie sie in unserem Rechtsstaat eigentlich üblich ist.
Immerhin geht nach Angaben der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren e. V. jeder dritte bis vierte Arbeitsunfall auf die Droge Alkohol zurück. Nur wird im Drogenscreenig nicht der Alkoholkonsum geprüft. Bayer testet nur illegale Rauschmittel. Heroin, Ecstasy, Kokain und natürlich Cannabis stehen auf der Liste der bösen Mittelchen. Dass die Urinprobe natürlich auch andere Dinge offenbart, zum Beispiel eine Schwangerschaft, die einer Einstellung möglicherweise entgegenstehen könnte, wird offiziell zwar zugegeben, werde aber natürlich nicht untersucht. Die mit der Auswertung befassten Werks- oder Betriebsärzte teilten nur lapidar mit, ob die Bewerber „geeignet oder nicht geeignet“ seien. Warum, unterliege eben der Schweigepflicht.
Und es gibt weitere Unsicherheiten. So sind Opiate, Kokain und Ecstasy nur in einer Zeitspanne von maximal vier bis sieben Tagen im Urin nachzuweisen. THC hingegen, der Cannabis-Wirkstoff, ist bis zu dreißig Tage nachweisbar. Bewerber sollten sich also für diese Zeit abstinent verhalten oder sich Fremdurin verschaffen. Der wird in den USA schon für 69 Dollar garantiert drogenfrei angeboten. Wer auch hier eine „Mein Urin ist sauber“-Ich-AG gründen will, sei gewarnt: Auch der Genuss von Mohnkuchen kann zu positiven Opiatergebnissen führen.
Der Bayer Betriebsrat hat dem Screening übrigens zugestimmt. Und Bayer ist nicht allein. BASF, Höchst, DaimlerChrysler, die Deutsche Bahn, Bosch, Heidelberger Druckmaschinen, die Kieler Stadtwerke und Volkswagen setzen Drogenscreening ein. Bevorzugt in den unteren Lohnklassen. Drogenkonsum bei so genannten Geistesarbeitern scheint verzeihlich. Vielleicht wird es als kreativitätsfördernd eingestuft? MATTHIAS HARRE
Mehr Informationen unterwww.bigbrotherawards.de
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