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So viel Harmonie war nie

Wissenschaftlich erwiesen: Deutschland braucht viel mehr Zuwanderung. Politisch erreicht: Deutschland akzeptiert sich als Einwanderungsland. Politisch völlig unklar: Wird Bremen das Einwanderungsgesetz mitsabotieren?

Bürgermeister Henning Scherf (SPD) hat signalisiert, Bremens große Koalition werde an der Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes „konstruktiv mitarbeiten“, wenn es das Bundesverfassungsgericht passiert. Schon bei der Verabschiedung im Bundesrat sei man sich intern darüber einig gewesen, das Gesetz nicht scheitern zu lassen. CDU-Landeschef Bernd Neumann widerspricht dem vehement.

Es war eigentlich eine große Harmonie-Veranstaltung: Zweimal im Jahr, so hat man sich im neuen Hochschul-Studiengang Politikmanagement vorgenommen, will man unter dem Label „Bremer Politikgespräche“ Prominente aus Politik und Wirtschaft zusammenbringen, um über aktuelle politische Probleme öffentlich „systematisch und tiefgehend“ zu diskutieren. Das gelang bei der Premiere am Montag im festlichen Rahmen der oberen Rathaushalle nur bedingt, denn die geladenen Gäste waren sich einig: Wir brauchen Zuwanderung und wollen über Unstimmigkeiten bei der nötigen Gesetzgebung hinwegsehen.

Da durfte Rektor Elmar Schreiber sich auf die Schulter klopfen, dass die Hochschule Bremen mit ihren internationalen Studiengängen sozusagen „Zuwanderung auf Probe“ praktiziere. Da zeichnete der Nestor der Einwanderungsforschung, der Freiburger Politologe Dieter Oberndörfer, sein Horrorszenario von einem Deutschland ohne Einwanderung, das 2050 nur noch 43 Millionen Einwohner hätte, die Hälfte davon älter als 50 Jahre, aber ohne Aussicht auf Rentenzahlungen. „Die würden sich um die verbliebenen Ressourcen die Köpfe einschlagen“, prognostiziert der schlohweiße Wissenschaftler nüchtern, – und sich in einem aussichtslosen Abwehrkampf gegen die wachsende Weltbevölkerung verschleißen. Damit Deutschlands Einwohnerzahl nur auf erträgliche 70 Millionen schrumpft, müssten pro Jahr mindestens 230.000 Zuwanderer netto kommen – fast doppelt soviele wie bisher. Und dass ja keiner denkt, das werde schon durch die EU-Osterweiterung kommen: „In Polen und Tschechien ist der Bevölkerungsrückgang krasser als bei uns, in Italien und Spanien sowieso.“

Unter der Macht dieser Argumente verging manchem Kritiker die Lust. Einer stand auf und drückte dem Referenten beim Rausgehen ein Flugblatt „Ausländer stoppen“ in die Hand. Einem anderen fiel nichts besseres ein, als zu unken, Ausländer brächten nun mal nicht nur ihre eigenen Normen sondern auch ihre „eigenen Kriminellen“ mit – eine Antwort mochte auch er nicht abwarten. Und ein sehr alter, sehr hagerer Herr zieh mit dünnem Stimmchen sogar den Stargast des Abends, Rita Süssmuth, des „Hochverrats“, weil sie per Zuwanderung und Einbürgerung das deutsche Volk abschaffen wolle. Solche Anwürfe parierte die Grande Dame der CDU, von der eigenen Partei an diesem Abend einmal mehr geschnitten, locker. Und als auch dieser Frager frustriert aufgegeben hatte, war man wieder unter sich: Weit über 200 überwiegend jungen Leuten, viele von ihnen offensichtlich selbst eingewandert, ging förmlich das Herz auf, als die Polit-Rentnerin mit immer noch jugendlicher Verve – und Charme – das Ende der „Realitätsverweigerung“ im Einwanderungsland Deutschland feierte, die Wandlungsfähigkeit von Kulturen und Identitäten beschwor oder Flüchtlinge als starke Persönlichkeiten würdigte. Und Altbundeskanzler Schmidts Worte kritisierte, Deutschland sei noch nicht reif für die Einwanderung: „So lernen wir es doch nie!“

Da war es für Henning Scherf nicht leicht, noch einen draufzusetzen. Er behalf sich mit einem Griff ins Nähkästchen: Bremen werde an der Umsetzung des Zuwanderungsgesetzes im Bundestag ganz sicher „konstruktiv mitarbeiten“ und sich nicht einer eventuellen Blockadehaltung der CDU-Länder anschließen, plauderte er. Schließlich habe er mit der Bremer CDU vor Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag Einigkeit erzielt: „An Bremen sollte das Zuwanderungsgesetz nicht scheitern.“ Wenn es auf die Bremer Stimmen angekommen wäre, hätte das kleinste Bundesland zugestimmt. Das habe CDU-Chef Bernd Neumann Bundeskanzler Gerhard Schröder sogar in einem Gespräch zugesichert. Das Gespräch hat damals tatsächlich stattgefunden, nur an den Inhalt hat Neumann eine andere Erinnerung: „Im Gegenteil: Ich habe keinen Zweifel aufkommen lassen, dass wir so kurz vor der Wahl unmöglich aus der CDU-Linie ausscheren können.“ Für die Abstimmungen über die Ausführungsgesetze lässt sich die Bremer CDU denn auch noch nicht in die Karten schauen: „Fragen Sie doch mal Senator Böse“, heißt es in der Parteizentrale. „So weit sind wir noch nicht“, spielt dessen Sprecher den Ball zurück, „und außerdem entscheidet darüber die Partei.“ Jan Kahlcke

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