berliner szenen Nachts in Schöneberg

Einsame Orgeltöne

Sie sind im Kino gewesen – „Triple X“ – und haben sich prächtig amüsiert. Danach sind Sie in der „guten, alten Goltzstraße“ (A. Becker) im „Café M“ gewesen. Haben daran gedacht, wie dieser Laden, damals unter „Café Europa“ firmierend, in Ulrich Peltzers Roman „Die Sünden der Faulheit“ als subkultureller Treffpunkt beschrieben wurde. Schließlich sind Sie eigentlich ganz zufrieden nach Hause gegangen, die Goltzstraße runter, über die Hohenstaufenstraße rüber, an der Kirche St. Matthias vorbei …

Und dann dröhnen aus dem Kirchenschiff Orgeltöne! Es ist Mitternacht, alle hohen Kirchenfenster sind dunkel, kein Licht, nirgends; aber aus dem Gotteshaus dröhnen tatsächlich – man weiß nicht recht, woher – düstere Akkorde. Als würde der Heiland nur für dich persönlich an der Orgel stehen. Im selben Moment bricht auch noch der halbe Mond links neben dem Kirchturm durch die Wolken. Ergriffenheit stellt sich ein. Und nachdem man die blitzartig auftauchenden Gothic-Novel-Assoziationen abgearbeitet hat, fragt man sich bang: Was, verdammt, hat das denn alles jetzt schon wieder zu bedeuten?

Kommen sie jetzt einen holen? Soll man vielleicht sein Leben ändern? Haut da gar Jens Jessen in die Tasten? Will er einen ermahnen, statt sich in einem Hollywoodfilm zu vergnügen, mal wieder ein Goethe-Gedicht zu lesen, einer Bach-Fuge zu lauschen, einen Bildband über Fischer von Erlach zu studieren?

Ach, na ja. Einige Schritte weiter fängt einen der wunderbar profane Winterfeldtplatz zum Glück wieder lebensweltlich ein. Und man ist – gute Nacht, Johann Wolfgang; Nacht, Johann Sebastian; schlaf gut, Johann Bernhard; träum weiter, Jens; Nacht, Vin – einfach ins Bett gegangen.

DIRK KNIPPHALS