Ein Euro für ein wenig Räucherlachs

Guten Tag, ich heiße Heinz, Dr. Heinz, ich habe Hunger und schon seit Tagen nicht mehr an der Börse spekuliert. Wenn Sie mir eine „Financial Times“ abnehmen, könnte ich mir wieder ein paar Aktien holen. Die neue Armut hat jetzt auch Neukölln erreicht

In der Börsenmission: Mit leerem Blick dünne Schildkröten-süppchen löffeln

von ULI HANNEMANN

In der U8: „Guten Tag meine Damen und Herren – wenn ich kurz um ihr Gehör bitten dürfte: Mein Name ist Heinz. Ich bin 34 Jahre alt und durch ein von mir selbst inszeniertes Bauherrenmodell unverschuldet in Not geraten. Ich habe Hunger, keine Wohnung und schon seit Tagen nicht mehr an der Börse spekuliert. Wenn Sie mir eine Financial Times abnehmen, könnte ich mir wieder ein paar Aktien holen. Von jeder verkauften Financial Times geht die Hälfte des Erlöses an mich und die andere Hälfte an den Verlag. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

Er geht mit den Zeitungen überm Arm durch den Mittelgang, lächelt freundlich nach rechts und nach links in stahlharte oder gleichgültige Gesichter hinein. Keiner kauft dem armen reichen Mann etwas ab. „Hier“, stecke ich ihm eine geringe Banknote zu, „aber eine Zeitung will ich nicht, danke!“ „Vergelt’s Gott!“ Er hat Tränen in den Augen.“ Ist schon gut, Heinz …“ „… Dr. Heinz, wenn ich bitten darf“, huscht ein letzter Rest Würde über sein graues Gesicht.

Ich schäme mich fast in Grund und Boden, als die U-Bahn hält und der ausgemergelte Anzugträger ohne ein weiteres Wort den Wagen verlässt. Auch ich steige nachdenklich aus: Schrecklich ist sie, diese neue Armut, die New Poverty. Oben an der Hermannstraße. Früher gab’s hier nur Dönerbuden. Seit die sich nicht mehr halten konnten, ist alles voll mit billigen Delikatessen.

Die New Poverty bestimmt das Straßenbild. Am Eingang eines Reformhauses sitzt so ein armer Hund auf einer schäbigen Lamadecke und hält den Passanten stumm ein schlichtes goldenes Schild mit der Aufschrift „Ich habe Hunger. Danke“ entgegen. Unter seinem Nerzmantel ragt ein trauriger Stumpf, vermutlich eine abgenagte Hirschkeule, hervor. Immer wenn er sich unbeobachtet fühlt, greift der Mann schnell mit den Fingern in eine aufgerissene Folie neben sich und stopft sich etwas Räucherlachs in den Mund. Einfach so, ganz trocken, ohne Brot. Schaudernd wende ich mich ab.

Ein paar Schritte weiter bettelt mich ein Mädchen um Wertpapiere an. Sie brauche sie nicht für sich, beteuert sie treuherzig, sondern für Tierfutter und deutet auf ihren prächtigen Araberhengst. „Haste mal ’nen Euro für’n Brunch“, lallt ein junger Mann. Ich gebe ihm nichts, weil ich ihm ansehe, dass er das Geld eh nur in eine der unzähligen miesen Eck-Cocktailbars schleppen und für Caipirinhas verprassen würde. Soll er halt zur IHK gehen – da hat die Börsenmission jetzt im Foyer einen Mittagstisch für Bedürftige eingerichtet, die dort umsonst ein karges Fünf-Gänge-Menü erhalten. Besonders im Winter sieht man da graustopplige Mittzwanziger mit leerem Blick dünne Schildkrötensüppchen schlürfen. Ein Mitleid erregender, ein erbärmlicher Anblick.

Am deutlichsten wird das Elend im Park. Auf dem Kinderspielplatz neben dem neu angelegten Orchideenhain hat sich eine Gruppe der Ärmsten der Reichen um ein wärmendes Kaminfeuer versammelt. Ihr Gestank ist schon von weitem kaum auszuhalten – das primitive 70-Euro-Parfum verschlägt einem fast den Atem. Mehrere Pappschachteln mit billigem Champagner kreisen, die Stimmung schlägt um: Aggressives Gröhlen ertönt, „kaufen, Alter, verkaufen“, man tauscht minderwertige Rohdiamanten oder versucht sich mangels Blättchen Zigaretten aus alten Staatsanleihen zu drehen. Ihre Villen haben diese gescheiterten Existenzen längst versteigert. Wenn es dunkel wird, bleibt als Schlafplatz nur die Bank beziehungsweise ein Sessel im Vorstandszimmer derselben. Auf dem Weg dahin sieht man sie ihren Wagen vor sich herschieben, in dem sich oftmals die gesamte Habe befindet. Dabei keuchen sie, dass man Angst um sie haben muss: Gar nicht so leicht, so ein 600er Daimler, voll mit Möbeln, Teppichen und Elektrogeräten. „Haste mal ’nen Zehner für Sprit, Alter?“, fragt mich eine dieser bedauernswerten Gestalten, „oder ’ne Kippe, oder vielleicht ’ne Kreditkarte?“

So gerne ich helfen würde: Dr. Heinz, der Kaputte vorm Reformhaus, das rührende kleine Mädchen – mehr ist für heute nicht drin. Ich muss aufpassen, sonst ende ich noch genauso.