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Große Koalition auf Kiews Straßen

In der Ukraine wächst der Protest gegen den selbstherrlichen Präsidenten Leonid Kutschma, doch die Opposition ist sich nicht einig, ob sie auf den Druck der Straße oder auf Verhandlungen mit dem Staatschef über eine Machtbeteiligung setzen soll

aus Kiew BARBARA OERTEL

Einschüchterungen, ein massives Polizeiaufgebot und ein Gerichtsverbot konnten sie nicht abhalten: Am Montagnachmittag protestierten in der Hauptstadt Kiew 15.000 Menschen und forderten den Rücktritt von Präsident Leonid Kutschma. Unter einem Meer von blau-gelben und roten Fahnen und Rufen wie „Kutschmu he!“ („Nieder mit Kutschma!“) marschierten die Teilnehmer durch die Innenstadt. Die staatlichen Sender, die kaum über die Vorbereitungen des Protestes berichtet hatten, wurden am Montag für mehrere Stunden abgeschaltet, offiziell wegen Wartung.

Der Tag des Protestes war nicht zufällig gewählt. Genau vor zwei Jahren, am 16. September 2000, verschwand der Journalist und Chefredakteur der Internet-Zeitung Ukrainska Pravda, Georgi Gongadse. Kurze Zeit später wurde eine kopflose Leiche gefunden, bei der es sich laut jüngsten Expertisen um die von Gongadse handeln soll.

Zum Skandal wurde der Fall, als Tonbandmitschnitte eines ehemaligen Sicherheitsoffiziers von Kutschma auftauchten, die den Präsidenten belasteten, in den Mord verwickelt zu sein. Die Folge waren wochenlange Proteste, die Kutschma fast sein Amt gekostet hätten.

Initiator der jüngsten Proteste ist die so genannte Troika aus Vaterlandspartei, Sozialistischer und Kommunistischer Partei. „Wir wollen vorgezogene Präsidentenwahlen auf demokratischer Basis, ohne Einschüchterung, Repression und Fälschung“, sagt die Vorsitzende der Vaterlandspartei, Julia Timoschenko. Sozialistenchef Alexander Moros fügt hinzu: „Wenn wir den Rücktritt auf diesem Weg nicht erreichen, werden wir das Parlament auffordern, eine Amtsenthebung zu beschießen.“

Außer dem Rücktritt des Staatspräsidenten möchte das Trio die Verfassung ändern mit dem Ziel, dem Parlament, der Verchovna Rada, mehr Machtbefugnisse einzuräumen. Aus gutem Grund: Bei den Parlamentswahlen im vergangenen März schafften es die präsidententreuen Parteien trotz dreistester Manipulationen nicht, die Mehrheit der Mandate zu erringen. Da die Verfassung aber keine Regierungsbildung auf der Basis einer parlamentarischen Mehrheit vorschreibt, sondern der Präsident eine Regierung nach eigenem Gusto ernennt, ist das alte Kabinett von Premier Anatoli Kinach weiter im Amt.

Etwas bedeckt hält sich derzeit noch der eigentliche Gewinner der Wahl und populärste Politiker der Ukraine, Viktor Juschenko. Er erzielte mit seinem Bündnis „Unsere Ukraine“ mit rund 23 Prozent das beste Zweitstimmenergebnis. Der frühere Regierungschef, in dessen Amtszeit Beamtengehälter und Renten pünktlich gezahlt und auch der Staatshaushalt halbwegs saniert wurden, setzt weniger auf den Druck der Straße als auf Verhandlungen mit Kutschma über eine Machtbeteiligung. „Wir haben von Kutschma keine endgültige Absage erhalten. Erst wenn das der Fall ist, gehen wir in die Opposition“, sagt der Vizefraktionschef von „Unsere Ukraine“, Juri Kostenko. „Während wir 1990 auf der Straße waren, haben die anderen in den Hinterzimmern gesessen und die Posten verteilt. Dort sitzen die meisten Vertreter des alten Denkens immer noch. Diesen Fehler wollen wir nicht wiederholen.“

Einer kleinen Gruppe steinreicher Oligarchen, die die wichtigsten Wirtschaftszweige kontrollieren, steht eine Bevölkerung gegenüber, die zu 75 Prozent unter der Armutsgrenze lebt und deren Durchschnittslohn nur 100 US-Dollar beträgt. Angesichts dieser Gegensätze haben viele Menschen für Rechtsfragen und politischen Postenschacher kein Verständnis. „Wir wollen andere Machthaber, nicht diese Oligarchen, die das Volk bestehlen“, sagt eine Frau. Eine andere verkündet: „Unter dieser Führung hat die Ukraine keine Perspektive. Wir werden für Veränderungen kämpfen und das bis zum Ende.“

Mittlerweile dürfte es auch Kutschma dämmern, welches Unmutspotenzial sich da zusammenbraut. Anlässlich des Unabhängigkeitstages am 24. August verkündete der Präsident, der seit Jahren das Parlament zu einem willfärigen Erfüllungsgehilfen seiner Politik machen will, die Rada mit mehr Rechten ausstatten zu wollen. Für Wladimir Polochailo, Chefredakteur der wissenschaftlichen Zeitung Politischna Dumka ist dies ein Versuch, der fragmentierten Opposition die Initiative abzunehmen. „Auch ist 2004 kein Nachfolger für Kutschma in Sicht. Daher muss der Präsident versuchen, seine Familieninteressen zu verteidigen – sowohl seine eigenen als auch die seiner politischen Familie“, sagt Polochailo. „Außerdem möchte Kutschma wohl doch noch als Reformer in die Geschichte eingehen.“

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