: Das Lächeln der Madame Dulac
Germaine Dulac sah im Kino „die Macht, uns aus unseren moralischen und faktischen Einschränkungen herauszuführen“. Die französische Regisseurin wollte Filme schaffen, die die Regungen der Seele auf musikalische Weise zum Ausdruck bringen
von MADELEINE BERNSTORFF
Ein Brief, ein Machtwort: „Entweder Du kannst uns vom 20. Juli bis zum 10. August FEST VIERZEHN Tage widmen und verpflichtest Dich schriftlich dazu, während dieser 14 Tage UNUNTERBROCHEN frei zu sein. Oder, wenn Du Dich nicht verpflichtest, uns diese 14 Tage zu widmen, … verzichtest Du auf die Rolle. Aber wir wollen ab jetzt eine klare und deutliche Antwort haben, die Du an Germaine Dulac, 42 rue du Général Foy in Paris schickst.“
Dies schreibt Antonin Artaud im Juli 1927 an die Dame Génica Athanasiou, seine einstmals große, seine erste, und manche sagen: seine einzige Liebe. Artaud sieht sie die weibliche Hauptrolle spielen in Germaine Dulacs „Le coquille et le clergyman“ („Die Muschel und der Kleriker“, 1927), nach seinem Drehbuch. Er selbst, der sich die Rolle des Priesters und Alchemisten auf den Leib geschrieben hat, wird aus den Dreharbeiten herausgehalten, ein zarter kleiner Mann mit Trippelschritten spielt an seiner Stelle. Artaud ist von diesem ersten surrealistischen Film so enttäuscht, dass er bei der Premiere einen großen Skandal heraufbeschwört: Dulac wird hilflos, aber massiv als „Kuh“ bezeichnet. Dieser Skandal wird in der Filmgeschichtsschreibung immer wieder als misogyne Äußerung der Surrealisten beschrieben. Die hatten ihre Mühe damit, dass eine Regisseurin eine Perspektive formulierte, die das grenzenlose Sexualität versprechende „Geheimnis Frau“ mit weiblicher Subjektivität modifizierte. Artauds atavistische Revolten stehen aber genauso im Zusammenhang mit den häufigen antibürgerlichen, bilderstürmerischen Provokationen der Surrealisten, wobei er auch mit diesen dauernd im Streit war.
Artaud wollte in dramatischer antirationaler Geste ein Kino, in dem „die Dinge des Herzens und des Geistes zermalmt und neu verknetet werden“. Germaine Dulac, der die Frankfurter Kinothek Asta Nielsen jetzt ein Symposium und eine Retrospektive widmet, forderte und sah „sichtbar menschlichere Filme“, Filme, die den Regungen der Seele auf musikalische Weise Gehör verschaffen sollten. Sicher könne das Kino eine Geschichte erzählen, aber das sei die Oberfläche. „Die siebte Kunst, die Kunst der Kinoleinwand, ist die spürbar gewordene Tiefe, die unter dieser Oberfläche liegt: das ungreifbar Musikalische.“ Das Kino als Befreiungsfigur besitzt für sie „die Macht, uns aus unseren moralischen und faktischen Einschränkungen herauszuführen“. Sie bemerkt auch, wie „all die Errungenschaften der Avantgarde vom kommerziellen Kino langsam und ohne Aufsehen instinktiv absorbiert“ werden.
Den Madame-Bovary-Figuren des 19. Jahrhunderts, die versuchen, sich mit Hilfe trivialromantischer Fiktionen aus der erotischen Verkümmerung und dem Ennui des provinziellen Mittelstands zu erheben, begegnen wir immer wieder in Dulacs Filmen. So ist „La souriante Madame Beudet“ (1923), die „Dame mit dem sonnigen Lächeln“, ihrem klobigen Tuchmachergatten so fern, wie es nur geht. „In den einsamen Gassen ohne jeden Ausblick unter tiefem Wolkenhimmel – durch Gewohnheit vereint.“ Sie spielt allein und versunken Klavier, die Kameraeinstellung, die Germaine Dulac dafür gefunden hat, riecht nach atemberaubender Depression: Von der Rückseite des Klaviers aus ist winzig der Kopf von Madame Beudet zu sehen, erdrückt vom Mobiliar und einer großen Blumenvase, ihre Mundwinkel hängen tief, puppenhaft ist sie beleuchtet. Ihre eskapistischen Träume werden von Illustriertenbildern heraufbeschworen: Eine Automobil-Reklame lässt sie von einem schicken Wagen träumen, der über ein Wolkenwattefeld gleitet, in der folgenden Großaufnahme verdreht sie die Augen ins Weiße. Ein Tennisspieler schleicht als Doppelbelichtung durchs Arbeitszimmer ihres Gatten, sie lacht schallend über diesen Traum, schließlich entsorgt der junge Mann den krakeelenden, lästigen Monsieur Beudet, dessen Schauspielstil wie eine etwas stumpfe Parodie auf die frühe Stummfilmzeit wirkt. Madame Beudet wiederum spielt „moderner“ – unhysterischer und zurückhaltend, der matten Verhaltenheit ihrer Depression entsprechend.
„L'invitation au voyage“ („Einladung zu einer Reise“, 1927) ist inspiriert von einem bekannten Baudelaire-Gedicht. Im Vorspann der niederländischen Verleihversion steht, der Film komme fast ohne Zwischentitel aus, Madame Dulac habe danach gestrebt, die Bilder selbst sprechen zu lassen. Eine Frau, die durch ihren Mann vernachlässigt wird … Ihr dunkler Bubikopf versinkt in einem großen, leuchtend weißen Pelz. Ein kurzer Seitenblick auf eine Nebenfigur: Ein rundliches Mädchen in einer kleinen Hosenrolle als Page öffnet ihr die Tür zur viel versprechenden Bar am Meer. Sie schreitet hinein in den Trubel, ein Tänzer auf der Bühne wirft die Beine, eine ältere und eine jüngere Geigerin spielen auf, Paare schieben über die Tanzfläche, die Getränkekarte auf Hebräisch, Kyrillisch, Arabisch bietet Cocktails: einer davon heißt „Pick me up“. Wer senkt seine Augen begehrlich auf die andere Person, wer blickt hin, wer weg – entzieht sich oder lockt, genießt den Blick oder wirft ihn zurück? Die abenteuersuchende Dame entfaltet dieses Spiel mit wechselndem Subjekt- und Objekt-Status mit einem geschniegelten Marineoffizier. Rückblenden zeigen sie in ihrem Heim, allein unter einer Stehlampe. Dulac ist Meisterin dieser Einsamkeitsbilder, der Einsamkeit der femme bourgeoise. Ein leerer Stuhl, ein unberührter Teller: in „La belle dame sans merci“ („Die schöne Dame ohne Gnade“, 1920) erläutert eine ganze Sequenz den Zustand der zum Warten verurteilten Ehefrau.
Germaine Dulac kennt das Milieu. 1882 kommt sie in der nordwestfranzösischen Stadt Amiens als Germaine Saisset-Schneider, Tochter eines Offiziers, zur Welt. Sie genießt die Erziehung des gehobenen französischen Bürgertums, mit Literatur und Musik einschließlich Reisen nach Bayreuth. Mit siebzehn recherchiert sie zu den politisch aktiven Frauen des frühen 19. Jahrhunderts. Nach dem Tod der Eltern geht sie, finanziell unabhängig, nach Paris, schließt sich der sozialistischen Bewegung an und arbeitet für die feministischen Zeitungen La Fronde und La Française. „Wie viele Frauen machen sich das Leben schwer, indem sie klagen und dabei vergessen, dass sie sich aus eigener Kraft vom Ort, wo sie das Schicksal hingestellt hat, befreien können!“, schreibt Germaine Dulac 1907. Im Jahre 1910 entdeckt sie den Film für sich, gründet mit ihrem Ehemann eine Produktionsfirma, ihre Freundin Irène Hillel-Erlanger schreibt die Drehbücher. Der Erste Weltkrieg erleichtert ihr als Frau den Einstieg in die Filmbranche. Nach ihrem ersten kommerziellen Erfolg – dem verschollenen sechsteiligen Cinéroman „Âmes des Foux“ („Die Seelen der Verrückten“, 1917) – folgen schnell weitere Aufträge. Der 1918 entstandene Film „La cigarette“ („Die Zigarette“), nach Dulacs eigenem Drehbuch, stellt eine Atmosphäre her, „die sich schlängelte, wie der Rauch eines guten Tabaks mit einer Gewandtheit, die dem Kino unbekannt war“. 1920, bei den Dreharbeiten zu „La belle dame sans merci“, begegnet ihr die Schauspielerin, Drehbuchautorin, Filmrestauratorin und Regisseurin Marie Epstein, die sie 1986 in einem Interview mit der Dulac-Forscherin Catherine Silberschmidt folgendermaßen beschreibt: „Ihre Haare trug sie kurz, im Garçonne-Stil. Sie wirkte etwas männlich, rauchte ununterbrochen, was damals für eine Frau nicht üblich war. Aber sie war charmant und äußerst liebenswürdig … Die Zwanzigerjahre waren keine gute Zeit für die Frauen und schon gar nicht für die Feministinnen.“ Während die künstlerischen Arbeiten im Laufe der Jahre immer abstrakter und musikalischer werden, engagiert Dulac sich für die Filmclubbewegung, geht auf Reisen und gibt Vorträge mit Filmbeispielen. Sie reagiert mit abstrakten Musikfilmen auf den Tonfilm, der auch für sie eine Zäsur bedeutet. Seit 1930 arbeitet sie bei der Produktionsfirma Gaumont und gründet dort die Wochenschaugesellschaft France-Actualités Gaumont. Der Film „Le cinéma au service de l’histoire“ („Das Kino im Dienst der Geschichte“, 1935), der erst Anfang der 90er-Jahre in Toulouse wiederentdeckt wurde, zeigt eine Montage von Aktualitäten aus der Zeit zwischen 1905 und 1935, die Germaine Dulac in den wirren Zeiten kurz vor der Volksfrontregierung realisiert hat. Der Tenor ist patriotisch und nationalistisch: „Organisationsgenie verhalf Frankreich zu seinen immensen Kolonialgebieten.“ Mussolini wird als Retter Italiens aus der Unordnung der Zwanzigerjahre gesehen und als derjenige, welcher der Jugend den Sinn für Disziplin und Nation zurückgegeben hätte. Der Film wurde 1942 von der Vichy-Regierung verboten. Catherine Silberschmidt sieht den regressiven Law-and-order-Patriotismus in diesem Film im Zusammenhang mit „einem gewissen Romantizismus genauso wie mit einem manchmal sehr idealistischen künstlerischen Konzept, verwurzelt im 19. Jahrhundert, welches hier und da im Werk von Dulac aufscheint“. Als die Deutschen in Paris einmarschieren, hat sich Germaine Dulac schon längst aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Sie stirbt 1942 im Alter von 59 Jahren.
Ein kenntnisreiches Kinematheksheft zur Retrospektive beschreibt die Rezeptionsgeschichte, würdigt Dulacs theoretische Arbeit zum Kino der Avantgarde und macht deutlich, wie wenig ihre Auffassung von Film mit einem „puristischen Kult der materialgerechten Form“ (Heide Schlüpmann) zu tun hat. Sie wollte die künstlerische und die ökonomische Wahrheit des Kinos zusammendenken. Germaine Dulac war nicht die erste französische Regisseurin, da gab es lange vor ihr schon Alice Guy, aber genauso wie diese hat sie deutlich gemacht, dass es auch weibliche Perspektiven auf die Welt gibt.
Germaine Dulac: Film-Retrospektive und Internationales Symposium, 31. 10. bis 3. 11. in Frankfurt/Main, Programm unter www.kinothek-asta-nielsen.de. Die Retrospektive wird vom 8. 11. bis 22. 11. im Berliner Arsenal-Kino gezeigt, Programm unter www.fdk-berlin.de. Freunde der deutschen Kinemathek (Hrsg.): „Germaine Dulac. L’invitation au voyage“. Kinemathekheft Nr. 93, Oktober 2002, 12 €
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