Eine Stadt liest ein Buch: Hanse-Sozialismus
Es kommt immer drauf an, aus welcher Perspektive man die Dinge betrachtet: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Ist die Lektüre eines einzigen Buches eine Kulturleistung oder nicht? Je nun, für den frisch alphabetisierten Knirps ist es ganz schön viel. Doch schon jemand, der fünf Bücher jährlich konsumiert, wird sich damit nicht brüsten wollen – ganz zu schweigen von den 20 Prozent Viellesern, die 80 Prozent der Bücher kaufen.
Aber solch verkopfte Kreaturen meint Kultursenatorin Dana Horáková auch nicht mit der Aktion „Eine Stadt liest ein Buch“, die vom 3. bis 8. November stattfinden soll: Auf Barkassen und Fähranlegern soll, was das Zeug hält, aus Siegfried Lenz‘ „Der Mann im Strom“ rezitiert werden, dass es nur so hallt. Und zweifellos werden sich Kinder und Jugendliche – Horákovás erklärte Zielgruppe – ganz besonders an dem 1957 edierten Roman erfreuen, der das Schicksal eines alternden Tauchers nachzeichnet. Denn Jugendliche begeistern sich erfahrungsgemäß ganz besonders fürs Historische und warten nur darauf, dass ihnen endlich jemand Mouse und Joystick aus der Hand schlägt.
Und was es da nicht alles zu hören und zu sehen geben wird: eine Sonderedition mit eingearbeitetem Kulturbehörden-Emblem, Lunchtime-, Marathon-, U-Bahn und Schullesungen, dazu eine Führung durch den Verlag – kurz: Schier Unglaubliches wird geleistet, um den Hamburger zur Lektüre zu bewegen. Klingt fast wie die weiland im Sozialismus schul- und firmenweise verschenkten Theaterkarten – und wehe dem, der nicht „freiwillig“ erschien! Und wenn man ganz ehrlich ist, liegt auch die aktuelle Lesemüdigkeit darin begründet, dass keiner den Leuten sagt, was sie lesen sollen. Welch Glück also, dass das endlich mal eine Kultursenatorin begreift – jetzt, wo Banausin Weiss endlich weg ist.
Dass die Initiatoren beim Senatsempfang dann wieder unter sich sein wollen – wer kann‘s ihnen verdenken? Ist schließlich ein ganz schöner Schlauch, die tumben Massen an die Buchstaben zu zwingen. Und, ganz unter uns: Soo nah dran will man das Volk ja nun auch wieder nicht haben! PETRA SCHELLEN
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