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Lesen als Schatz

An der Kreuzberger Lenau-Grundschule startet ein neues Projekt: Lesepaten kommen regelmäßig in die Schule, um die Kinder für Bücher zu begeistern

von SABINE AM ORDE

Die Lesekompetenz deutscher SchülerInnen ist schlecht. Zum Teil dramatisch schlecht. Besonders schwierig sieht es bei Jugendlichen aus Zuwandererfamilien aus. Das hat die Pisa-Studie eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Die LehrerInnen der Kreuzberger Lenau-Grundschule haben diese Ergebnisse nicht überrascht – seit vielen Jahren beobachten sie genau das bei ihren SchülerInnen. Und sie überlegen, wie man die Kinder für das Lesen begeistern kann. Jetzt startet die Schule in der Nostizstraße ein neues Projekt: Sie holt LesepatInnen von außen. Menschen, die sich anderhalb Stunden pro Woche Zeit nehmen, um mit Kindern der Lenau-Schule in Kleingruppen zu lesen und darüber zu sprechen, was sie gelesen haben.

„Wir haben gemerkt, dass das Erzählen noch viel wichtiger ist“, sagt die Lehrerin Sibylle Recke, eine der Initiatorinnen des Projekts. Viele Kinder könnten zwar lesen, würden das Gelesene aber nicht wirklich verstehen. „Außerdem entstehen keine Bilder im Kopf“, sagt Recke, die derzeit eine 5. Klasse unterrichtet. „Wir wollen nicht nur, dass die Kinder besser lesen lernen. Wir wollen ihnen den Genuss daran vermitteln und zeigen, dass Texte neue Welten eröffnen können.“

Vierzig LesepatInnen haben sich bereits gefunden. Die meisten von ihnen sind Frauen deutscher Herkunft, viel mehr Gemeinsamkeiten gibt es nicht. Da ist die Studentin, die normales Kreuzberger Leben kennen lernen will, die Rentnerin, die eine ehrenamtliche Arbeit mit Kindern sucht, die ehemalige Lehrerin, die eine Fortbildung als Märchenerzählerin hat, und die Wissenschaftlerin, die das ganze professionell angeht. „Die Motivationen sind sehr unterschiedlich“, sagt Ilse Schimpf-Herken vom Berliner Paulo-Freire-Institut, die das Projekt zusammen mit Sibylle Recke auf die Beine gestellt hat.

Barbara Oetter ist Kinderbuchautorin. „Lesen ist sehr wichtig für mich“, sagt Oetter. „Literatur kann einem helfen, so vieles zu bewältigen.“ Sie hat schon in der Neuköllner Stadtbibliothek ehrenamtlich vorgelesen. Doch die großen Gruppen dort fand sie zu unruhig. Deshalb ist sie jetzt an der Lenau-Schule. In dieser Woche war sie zum ersten Mal in der Klasse 1 b. Künftig wird sie hier, wie eine andere Lesepatin, ein- bis zweimal in der Woche auftauchen. Und mit maximal drei Kindern lesen und erzählen. „Viele unserer Kinder kennen die intime Situation des Vorlesens und gemeinsamen Lesens nicht“, sagt eine der Lehrerinnen der 1. Klasse. „Das, was für viele Mittelschichtskinder eine Alltagserfahrung ist, ist für unsere Schüler ein großer Schatz.“

Noch schnuppern Barbara Oetter und die anderen LesepatInnen in die Klassen hinein. Bald aber müssen sie sich festlegen. Mindestens ein halbes Jahr lang sollen sie Zeit für „ihre Kinder“ haben. „Verbindlichkeit ist wichtig“, sagt Lehrerin Sibylle Recke. Besonders für die nichtdeutschen Kinder sei es von Bedeutung, dass es jenseits des Lehrers noch andere deutsche Menschen gibt, die sich für sie interessieren – für mehr als ein paar Stunden.

Vor ihren ersten Einsätzen haben die LesepatInnen zur Vorbereitung einen Workshop bei LesArt besucht, einem Zentrum für Kinder- und Jugendliteratur. Solche Workshops soll es jetzt alle zwei Monate geben. Hinzu kommt ein regelmäßiger Austausch beim Kaffeeklatsch und der gemeinsame Besuch von passenden Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen. Diese Begleitung unterscheidet die LesepatInnen der Lenau-Schule von anderen Projekten dieser Art, die es schon gibt.

Eine originär staatliche Aufgabe sollen die LesepatInnen nicht übernehmen, betont Sibylle Recke. „Aber natürlich mangelt es hier an Personal.“ Doch Ziel sei nicht nur, mehr Personen für die Kinder zur Verfügung zu haben – sondern auch ein andere Gruppe von Personen: „Menschen, die nicht unbedingt einen pädagogischen Blick haben, aber trotzdem anders sind als die, die die Kinder von zu Hause kennen“, sagt Recke. „Wir wollen eben auch das Getto aufbrechen.“

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