: Extramedizin für Reiche
betr.: „Notoperation per Rotstift“, Kommentar von Werner Bartens, taz vom 2. 11. 02
Bartens schreibt, der Bundesregierung fehle eine Vision. Die derzeitige Hochleistungsmedizin sei nicht mehr finanzierbar. Diese Behauptung ist ideologisch. Weil sie unterschlägt, dass die ökonomischen Probleme des Gesundheitswesens nicht in erster Linie von diesem selbst verursacht wurden, sondern die Folge wegbrechender Einnahmen in Folge der unverändert hohen Massenarbeitslosigkeit sind. Wer da ins allgemeine Lamento mit einstimmt, läuft Gefahr, mit der Kritik am ach so teuren Gesundheitswesen Wasser auf die Mühlen derjenigen zu leiten, die nichts anderes vorhaben als eine Aufspaltung der Kassenleistungen in Basiskatalog für alle und Extraleistungen für Reiche.
Sicher gibt es erhebliche Rationalisierungsreserven. Beispielsweise liegt Deutschland bei der Zahl der Herzkatheter-Untersuchungen pro Kopf weltweit an der Spitze. Wenn ich als Hausarzt eine/n Patienten/in in die nächste Kardiologie zum Herzkatheter einweise, wird er durchgeführt. Da wäre sicher eine Drittmeinung sinnvoll. Genauso bei Star-Operationen oder besonders teuren medikamentösen Behandlungen. Hieran wird aber fieberhaft gearbeitet, beispielsweise bei der Erstellung der Disease-Management-Programme, die möglicherweise zugleich Einsparungen und eine Qualitätsverbesserung bringen können. Solche Projekte taugen nicht zum Schwert, mit dem ein gordischer Knoten durchschlagen werden kann. Sie sind auf detaillierte Diskussion und Evaluation angewiesen. Das dauert etwas und sieht wenig spektalukär aus. Wenn aber am Ende ein Modell herauskommt wie beispielsweise das skandinavische, in dem eine solide Medizin auf guter wissenschaftlicher Grundlage zu vergleichsweise akzeptablen Preisen betrieben wird, ist mir das allemal lieber als die großen Entwürfe, die dann doch im Abgehen von der Solidarität enden. GÜNTHER EGIDI, Bremen
Endlich einmal ein Kommentator zum „kranken Gesundheitswesen“, der jenseits von Lobbyinteressen, Kosten und Einsparungen (am Schluss) ein grundsätzliches Fazit zieht: „Die derzeitige Hochleistungsmedizin ist das Ergebnis eines fragwürdigen Fortschritts“, und mehr noch: Es fehlt vor allem an Visionen und einer brauchbaren Definition von Wohlbefinden.
Doch was ist, wenn unsere wesentlichen Beschäftigungen nur noch auf Erhalt und Steigerung unserer Fitness ausgerichtet sind. Dann müssten wir erkennen, dass wir in einer absurden Zeit leben, einer Zeit – die ausgerechnet etwas so Zerbrechliches wie die Gesundheit zu allerhöchstem Gut erklärt. Und diese allgemeine Absurdität lässt sich im Falle von Krankheit und Alter noch steigern: Jede Art von Vorsorge und Heilung erzeugt schließlich eine immer größer werdende Anzahl von Menschen, die in dem endlich erreichten hohen Alter erst recht der medikamentösen Zuwendung bedürftig sind. Wenn wir uns also nach den Empfehlungen der Ärzte richten und die Lebenserwartung weiter erhöhen, dann wird das schließlich die Krankenkassen vor unüberwindliche Probleme stellen.
Medizinisches Handeln, das ethisch voll gerechtfertigt und für den Einzelfall vertretbar erscheint, verstößt zugleich gegen ein anderes, höheres Prinzip, nach welchem die Lebenszeit des Menschen begrenzt ist und das Hinausschieben dieser Grenzen nicht beliebig fortgesetzt werden kann, bei Strafe des Zusammenbruchs der Gesellschaft. Wenn wir uns aber ernsthaft diesem geradezu (im altgriechischen Sinne) tragischen Widerspruch nähern wollen, so muss uns nicht nur durch Sterbebegleitung und Hospize die Angst vor dem Sterben genommen werden. Denn viel wichtiger noch ist die Angst vor dem Nichts, die auch durch vermeintlich „humanens Sterben“ nicht zum Verstummen gebracht wird. Hier hat nicht nur die (praktische) Philosophie, sondern haben vor allem auch Religion und Kirche eine eminent wichtige gesellschaftliche Aufgabe. WALTER GRODE, Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen