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Raum für kleine Mädchen mit Kampfhunden

Erste Schritte auf neuem Plateau: Nach dem Palais de Tokyo hat Paris einen weiteren, ziemlich quirligen Ort für zeitgenössische Kunst

„Nach der Dürre nun die Flut?“, fragt die Kollegin von Art Press ein bisschen ironisch. Verständlich. Denn nach jahrelanger Abstinenz legen sich in Paris nun zwei Veranstaltungsorte für neueste Kunst ins Zeug. Das Palais de Tokyo und Le Plateau. Dass sie sich in die Quere kommen könnten, muss nicht befürchtet werden. Denn wenn sie auch beide für ein offen-flexibles Experimentallabor eintreten, sind doch die Unterschiede unübersehbar. Auf dem Damenklo des Tokyo wird zwischen beiden Orten abgewogen: „Le Plateau im 19. Arrondissement“, steht da auf die sorgsam roh gestaltete Wand gekritzelt, „ist ein Raum für viele Lebensentwürfe in der Stadt. Und hier? … Kunst als Alibi!“. Ein gemeinsamer Ansatz beider Kunststätten ist somit ex negativo angekommen: die Kunst mit dem öffentlichen Leben zu verweben und unprätentiös unter die Leute zu bringen.

Dass dieses Vorhaben im Fall des mit großem Tamtam eröffneten Tokyo ein bisschen nach einer Kopfgeburt ausschaut, liegt auch an Standort und Architektur. Das neoklassizistische Gebäude, das 1937 zur Weltausstellung errichtet wurde, befindet sich im nicht eben vitalen, sehr schicken 16. Arrondissement. Der sympathische Architektenplan jedenfalls, das lebendige Chaos des Markts von Marrakesch hier erstehen zu lassen, scheint wenig erfolgsträchtig.

Ein paar Kilometer weiter nordöstlich liegt das unscheinbare Arbeiterviertel Buttes-Chaumont. Ein bebauter Hügel, auf dem das Stadtleben noch so ähnlich stattfindet, wie es vor Jahrzehnten im nahe gelegenen Montmartre gewesen sein muss: mit kleinen Läden, abgelebten Wohnungen, lautem Straßentreiben, Arbeitercafés. Am höchsten Punkt des Hügels findet sich das Kunstzentrum Le Plateau.

Entstehungsgeschichte wie Programm dieses 600 Quadratmeter großen Areals lesen sich erfrischend links wie eine Fortsetzung von Jean Renoirs Film „Le crime de Monsieur Lange“, der vom Aufstand eines Hinterhof-Kollektivs handelte, das sich erfolgreich aus den Klauen eines gefährlichen Spekulanten befreit. Die drehbuchreife Geschichte des Plateau begann 1993, als die Société Française de la Production TV ihren traditionsreichen drei Hektar großen Standort in der rue des Alouettes aufgab, um hier, außerhalb des Zentrums von Paris, kostengünstiger zu arbeiten. Damit sollte die verschlafene Gegend in Traumlage vom großen Geld erschlossen werden: Ein Bauriese entdeckte den Charme des Viertels und plante, ihn in über 700 Luxuswohneinheiten zu vermarkten – samt Sicherheitsanlagen.

Auftritt Eric Corne, ein hier lebender, sozial engagierter Maler: Als Reaktion auf die Pläne gründete er 1995 die Bürgerinitiative „Vivre aux Buttes-Chaumont“ und koordinierte den Kampf gegen das Spekulationsprojekt. Was kaum einer geglaubt hätte, wurde wahr: Nach jahrelangem Tauziehen verpflichtete sich die Baufirma nicht nur zur Reduzierung der Stockwerke von zehn auf sieben (in erträglichem Neo-Art-déco). Sie baute zudem eine Kita und ein Zentrum für zeitgenössische Kunst – und stellt diese auf dreißig Jahre kostenfrei zur Verfügung. Die erste Ausstellung „premiers mouvements – fragiles correspondances“ konnte eröffnen.

Der auffallend bescheidene Titel umreißt auch das demokratische Programm von Eric Corne und Bernard Groy vom Fond régional de l’art contemporain (FRAC) der Île de France. Die beiden auf zwei Jahre gewählten Direktoren des Plateau setzen auf neue, wenig beachtete Kunst, die in wohltuender Art zusammen mit ihren (arrivierteren) Anregern und Vorläufern gezeigt wird. So soll eine Begegnungs- und Befragungsstätte entstehen, in der Künstler, Kunstkenner, aber auch neugierige Anwohner vorbeischauen können.

Beim konzentrierten Rundgang am Morgen nach der Eröffnung erwartet einen tatsächlich ein angenehmer Nutzraum mit den verspielten Pappobjekten Robert Fillious. Neben der Hommage an den großen Spieler und Autodidakten Filliou wurden – vielleicht ein bisschen bunt gewürfelt – Arbeiten zum (politischen) Alltag von Bruce Nauman, Gordon Matta-Clarke, André Cadere und Harun Farocki gezeigt. Zusammen mit neuen, teilweise vom Plateau in Auftrag gegebenen Stücken neuerer Künstler wie Till Roeskens, Dana Wyse, Eric Hattan, Marie Legros. Wohl aufgrund der bürgerbewegten Vorgeschichte herrscht große Offenheit.

So geraten etwa die fotografischen Objets trouvés des Schweizers Hans Jürg Kupper durchaus ein wenig in die Nähe engagierter Oberstufenkunst, wenn er Baudaten im Pariser Trottoir-Beton zeigt. Ob Santiago Reyes Foto-Diptychon „Monde Parallèle“, das ein kleines Mädchen mit Kampfhund in ärmlicher Stadtlandschaft festhält, oder „Transfert, Masse critique“ und „Transfert, SOS“, die Metro- und Mietshaus-Videos von Marie Legros: der Großstadtalltag ist stets präsent, wenn auch nicht immer zwingend.

Egal: Schlendert man durch die überzeugend schlichten, hellen Räume und lässt den Blick von der Kunst auf die quirligen Besucher gleiten, die oft nicht von den Aufsichtsleuten zu unterscheiden sind, wird die entspannte, gleichwohl vitale Atmosphäre deutlich spürbar. Und während man durch die großzügigen Fenster Mütter mit Picknickkörben draußen in den Park um die Ecke ziehen sieht und drinnen kreischende Kinder ihren Vätern davonlaufen, bekommt das Ganze plötzlich etwas vom Durcheinander des afrikanischen Markts in der nahe gelegenen rue des Poissonières. Hier löst sich offensichtlich ganz en passant das Konzept der Architekten des Palais de Tokyo ein: marokkanischer Marktplatz und Basar zu sein. GABY HARTEL

„Maquis“, bis 14. November, mit Gary Hill, Julije Knifer, Fiorenza Menini u. a.; Le Plateau, 33, rue des Alouettes

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