: Du tust etwas, was ich nicht seh
Wann beginnt die Arbeit? Vor einigen Jahren rückten französische und belgische Filmemacher den Kampf um Job und Existenz und damit die ruhelosen Körper der Protagonisten in den Mittelpunkt. Heute beschäftigt sie das Verschwinden der Arbeit: Wie macht man sichtbar, was zur Unsichtbarkeit neigt?
von ANNETT BUSCH
„Gibt es eine Dramaturgie für das Monotone, das Immergleiche, die zigfachen Wiederholungen? Gibt es eine Dramaturgie für Prozesse, die an der Oberfläche nicht mehr sichtbar sind?“ (Gabriele Voss: „Wo bleibt die Arbeit? Oder: das Lächeln der Sophia Loren“)
Es ist ein Slapstick-Klassiker: Jemand schließt sich unbemerkt einer zufällig vorbeilaufenden Gruppe an, indem er deren Schrittgeschwindigkeit, Armschlenkerradius und Gesichtsausdruck imitiert. Man nimmt das schnell als komisch wahr. Die Gruppe erkennt den Fremdgänger nicht, dieser wiederum macht der anderen toten Winkel sichtbar.
In André Téchinés „Weit weg“ pirscht Said über das Hafengelände Tangers. Ein Grüppchen Lkw-Fahrer bietet ihm nichts ahnend einige entscheidende Sekunden lang Schutz. Vorher fällt der Satz: „Hier, in Tanger, gibt es keine Arbeit.“ In Laurent Cantets „Auszeit“ steht Vincent in Anzug und crèmefarbenem Trenchcoat vor einem großzügig verglasten Bürogebäude. Ihm bietet eine hektische, schwätzende Vierergruppe Tarnung, so dass er unbemerkt die Empfangstheke passiert. Niemand scheint auf Vincent zu achten. Er passt ins Bild.
Said löst sich von dem Moment der Imitation, pirscht weiter, versteckt sich, sucht neuen Schutz. Er hat zwei Ziele: Europa und Arbeit. Vincent bleibt Imitation. Eigentlich hat er nichts tun. Das heißt, er ist vollauf damit beschäfitigt, sein Fake-Leben zu perfektionieren. Er ist die Erscheinungsweise seiner früheren Arbeit.
Vincent legt seinen Mantel lässig über den Arm und schreitet den Gang eines der obereren Stockwerke ab, in der Haltung eines Abteilungsleiters. Er wird prompt gegrüßt. Mit ihm gleitet die Kamera an den gläsernen Bürozellen vorbei. Menschen reichen sich Akten über den Tisch, schauen in Computer, telefonieren, sitzen in Meetings und sagen Wörter wie: „investitionsfreundliches Klima“.
„Zwischen legaler Ökonomie und Schattenwirtschaft ist oft nur schwer zu unterscheiden“, wird Vincents neuer Kollege später dozieren. Er meint damit den Handel mit gefakten Markenprodukten, mit Uhren und T-Shirts, die billig in Polen angefertigt und in Frankreich teuer verkauft werden.
Jeder, der noch nie am Fließband gestanden hat, wäre sofort aufgefallen, hätte er versucht, die Schnelligkeit einer Handbewegung zu imitieren. Jeder, der noch nie versucht hat, mit einem Schweißbrenner einen Tresor zu öffnen, hätte wohl größere Probleme, das zu imitieren.
Es zeichnet sich eine Tendenz ab: Das französischsprachige Kino stellt sich wieder die Frage nach der Arbeit und deren sozialen Abdrücken. Die Ergebnisse sehen anders aus als vor einigen Jahren. Abstrakter, denn das Körperliche an der Arbeit wie an den Filmen ist verschwunden. Bei Filmen wie „Rosetta“, „La Vie de Jesus“, „Humanité“, „La Promesse“ oder „Seul Contre Tous“ waren es vor allem die existenziellen Kämpfe erwerbsloser, oft verzweifelter Individuen, die mit all ihrer Körperlichkeit ins Bild gerückt wurden. Sie konnten nicht raus aus ihrer Haut, die Kamera klebte an ihnen, man hörte sie schnaufen, sah sie rennen, strampeln und Mofa fahren.
Nun geht die Kamera wieder auf Distanz, richtet ihren Blick auf Zusammenhänge, familiäre und gesellschaftliche. Arbeit ist dabei allgegenwärtig, ohne explizit gezeigt zu werden. Sie durchdringt und strukturiert das Leben der Protagonisten. Diese haben keine Zeit mehr für Träume oder (Liebes-)Geschichten, die sich im alltagsfreien Raum abspielen. Die Menschen sind müde. Sie wenden alle Energie auf, um ihren Lebensstandard irgendwie zu halten. Die Filme heißen nun: „Milch der Zärtlichkeit“ von Dominique Cabrera, „Bord de Mer“ von Julie Lopes-Curval, „Voltaire ist schuld“ von Abdel Kechiche, „Ressources Humaines“ von Laurent Cantet.
Bewegung spielt weiterhin und mehr denn je eine Rolle. „Rosetta“ handelte von der allumfassenden Kraftanstrengung, einen Job zu ergattern. Erwerbslosigkeit hieß Ruhelosigkeit. Erst als Rosetta in ihrer Waffelbude steht, kehrt für einen Moment Ruhe sein. Auch Vincent und Said befinden sich in einem Zustand ständiger Bewegung, ebenso die Figuren in Abdel Kechiches „Voltaire ist schuld“. Doch anders als in „Rosetta“ resultiert Vincents Ruhelosigkeit daraus, dass er sich mit dem ständigen (geschäftlich/geschäftigen) Unterwegssein identifiziert. Sein rastloses Herumfahren im komfortablen Mittelklassewagen ist zugleich Simulation, Flucht und Lust. Noch kann er sich das leisten. „Das Geld arbeitet“, sagt er seinen leichtgläubigen Freunden, mit deren Geld er angeblich auf geheimen Konten spekuliert, was natürlich niemand sieht. „Um Zeit zu gewinnen“, wird er seinem Kollegen sagen, habe er seine Freunde betrogen. Später wird aus derselben Bewegung, dem ständigen Autofahren, ein Geschäft, das sich Import-Export nennt. Jallel, Hauptfigur aus „Voltaire ist schuld“, streift nächtelang durch Paris, um Rosen zu verkaufen, steht in Metro-Schächten und bietet Avocados und Orangen feil. Ein mobiler Verkaufsstand, der innerhalb von Sekunden verschwunden ist, sobald Flics auftauchen.
In Julie Lopes-Curval' Debüt „Bord de Mer“ ist es eine Kleinstadt im Norden Frankreichs, die vor allem vom Tourismus und einer Kieselfabrik lebt. Die Regisseurin braucht keine großen Gefühle oder existenziellen Abgründe, auch keinen Streik, um ihre Geschichte vorwärts zu treiben. In weiten blass-blauen Bildern entspinnt sie eine Kleinstadtstudie. Alle kennen und beobachten sich gegenseitig. Aber die Kumpelhaftigkeit bekommt Risse, wenn ungleiche Einkommensverhältnisse im Vordergrund stehen. „Wir sind keine Kollegen, wir verdienen nicht dasselbe“, entgegnet die Angestellte ihrem Chef, der sie gern zum Essen eingeladen hätte. Und die spielsüchige, zerbrechliche Rose (Bulle Ogier) rückt mit ihrem Liegestuhl am öffentlichen Strand von der reichen, schnepfigen guten Bekannten ab. Man liegt eben nicht in einer Reihe. Auch ein etablierter Modefotograf macht im Städtchen seiner Kindheit Urlaub. Mit seiner Freundin durchstreift er das etwas abgelegene Areal der Kieselfabrik. Ob er hier mal Fotos gemacht habe? „Man fährt immer weit weg, um Fotos zu machen.“ – „Es scheint, dass es hier weit weg ist.“ Im Winter kehrt er zurück, um leicht bekleidete Models zwischen den dunkelgrauen Kieseln posieren zu lassen. Mit dem nächsten Schnitt wird seine stolze Mutter das Hochglanzmagazin am Kiosk erstehen und es am Strand durchblättern. Ihr schwindelt. Sie scheint nicht wiederzukennen, was sie täglich sieht. Derangiert schiebt sie ihr Fahrrad zur Fabrik und fragt einen der Arbeiter, was mit den Steinen eigentlich passiere, wo die denn hinkämen. „Jetzt wohne ich schon so lange hier und habe keine Ahnung.“
Achsensprünge: „Wahrscheinlich bin ich nur ein wenig eifersüchtig. Für mich bleibt alles gleich. Ich kümmere mich um das Haus, die Kinder, die Schule, während du einfach so dein Leben ändern kannst.“ Diesen Satz sagt, in „Auszeit“, Muriel zu Vincent. Da ist dieser neue Job in der Schweiz, bei der UNO in Genf. Voir und savoir, sehen und wissen. Was kann Muriel über die Lebensaspekte ihres Gatten wissen, die sie nicht sehen kann?
Muriel und Christelle. Wir springen von einer Geschichte, in der sich einer eine Auszeit nimmt, zu einer, in der sich eine einen Aussetzer leistet, in „Milch der Zärtlichkeit“. Muriel und Christelle sind beide berufstätige, verheiratete Mütter dreier Kinder, Ende dreißig, scheinbar gut situierter Mittelstand. Tough, patent, humorvoll, zwei moderne Frauen. Christelle ist die Protagonistin in Dominique Cabreras „Milch der Zärtlichkeit“. Wie Cantet siedelt Cabrera ihre Geschichte in der Landschaft der Rhônes-Alpes an, in einer touristisch anmutenden Kleinstadt. Christelle ist spurlos aus dem Blickfeld ihrer Familie entschwunden. Und ihr Gatte beginnt, ihre Arbeit, ihr Leben erst durch ihre Abwesenheit zu sehen. (Muriel hingegen sah nichts in der Abwesenheit ihres Gatten, weil sie zum Alltag gehörte.) Was passiert ist? Nichts. Nichts, was zu sehen wäre. Eine Lappalie, das Waschbecken ist übergelaufen. Es war dieser Tropfen, der das Leben aus dem Lot hat geraten lassen. Diese Dreifachbelastung, die man nicht sieht. Dominique Cabrera inszeniert zwei Paralleluniversen, die sich räumlich ganz nahe sind und sich doch nicht sehen. Christelle ist nur eine Tür nebenan und geht der Nachbarin auf die Nerven. Zwischendurch fallen Sätze, die mit Zeit und Arbeit zu tun haben. „Du hast doch Zeit“, sagt Muriels Mann einmal zu einem arbeitslosen Freund. „Sag nie wieder, ich hätte Zeit“, sagt der, später, bei einer Autofahrt.
Seit einer Stunden schon sitzt Vincent in einem Bürogebäude, in einem der herumstehenden Sessel, studiert eine Broschüre, spricht in sein Handy. Auf den ersten Blick scheint er dazuzugehören. Doch er wird vom Mann an der Empfangstheke über den Bildschirm beobachtet, und dieser findet die Zeitspanne des Aufhentalts verdächtig. „Dies ist kein öffentlicher Ort.“ Freundlich, aber bestimmt wird Vincent des Platzes verwiesen.
Es heißt, in Japan habe die Realität längst den französischen Film überholt. Es soll Parkanlagen geben, in denen eine Menge Herren in Anzug und Aktentasche herumsitzen, stundenlang. Was nach dem kurzen Glück einer Mittagspause aussieht, ist, na ja, was eigentlich? Wer kann schon so genau sagen, was sie da tun?
Heute läuft an: „Milch der Zärtlichkeit“. Regie: Dominique Cabrera. Mit Marilyne Canto, Patrick Bruel, Sergi Lopez u. a. Frankreich 2001, 95 Minuten. Außerdem ist zurzeit in den Kinos zu sehen: „Auszeit“. Regie: Laurent Cantet. Mit Aurélien Recoing, Karin Viard, Serge Livrozet u. a. Frankreich 2001, 128 Minuten
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