: Lawinen oder Lavaströme
Wenn man es recht bedenkt, ist es egal, ob man die Welt von innen oder außen betrachtet; der so genannten Wahrheit kommt man nicht näher. Und ob die weißen Flecken auf einem Franz-Roh-Foto aus den Zwanzigern Lawinen oder Lava darstellen – wer könnte es beschwören?
Das Foto sage genauso die Wahrheit wie alle anderen Medien, habe allerdings eine „reiche Skala Freiheit gegenüber der Natur“, erklärte Franz Roh (1890–1965), dem die aktuelle Studioausstellung der Deichtorhallen gewidmet ist. Der Titel der Schau, foto-auge, ist einem 1929 von Roh mit edierten Buch entlehnt.
Zeitlebens kämpfte der Kunsthistoriker, der bei Heinrich Wölfflin studiert hatte und seit den 20er Jahren Collagen schuf, für die Anerkennung der Fotografie als eigenständiges künstlerisches Medium. Engen Kontakt hielt er mit Laszlo Moholy-Nagy, Kurt Schwitters und George Grosz; 1933 internierten ihn die Nazis für mehrere Monate in Dachau. Er überlebte das Lager. Ausstellen durfte er während des Dritten Reichs nicht mehr, knüpfte aber nach dem Krieg an seine früheren fotografischen Experimente an. Max Ernst stand er nahe, war beeindruckt von Verfremdungsmöglichkeiten durch Überblendung und Übereinanderlegen von Negativen, der „Sandwich-Technik“.
Doch an die Öffentlichkeit hat sich Roh, der nach 1945 an der Saarbrücker Kunstschule und an der Münchner Universität über Kunst des 20. Jahrhudnerts lehrte, erst wenige Jahre vor seinem Tod gewagt: 1961 gab es in München eine erste Ausstsellung seine Folocollagen; 1963 folgte eine Schau in Wuppertal.
Langsam erst wird Rohs fotografisches Werk entdeckt und gewürdigt – zu Unrecht, denn seine Experimente waren höchst modern und haben ihre Ambivalenz nicht verloren. Denn man kann schlicht nicht leugnen, dass die zwei weiß über einen Platz huschenden Männerschatten – das Foto entstand zwischen 1922 und 1928 – eine viel geheimnisvollere Geschichte erzählen, als genormte Belichtung es je erlauben würde. Und der Frauentorso, der sich anderswo Max-Ernst-gleich über einen Baum legt, erinnert stark und spielerisch an die alte Geschichte von der Nymphe Daphne, die sich auf der Flucht vorm Gott Apollo in einen Baum verwandelte. PETRA SCHELLEN
Di–So 11–18 Uhr, Deichtorhallen; bis 12. Januar
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