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: Das Vorstellungsgespräch als Erlebnis

Der neue Weg, Berlin zu erkunden

Das neue Berliner Nachtleben ist laut BZ im November aufregend wie nie: Der Tauchladen in der Ohlauer Straße, Watergate, Umspannwerk … Das alles kann nun keinen verfeinert empfindenden Menschen hinter dem Ofen hervorlocken. Anders ein neuer Trend, der sich in den letzten Wochen ausgebreitet hat: Job Interviewing, das Vorstellungsgespräch als Erlebnis. Dabei ist das Interviewing, neudeutsch Vorstelling, eine Unterart des Afternooning. Wir erinnern uns: Afternooning bedeutet nachmittags schon so viele Erlebnisse anzuhäufen, dass um 8 Uhr abends nach einem lebenssatten Tag kein weiteres Amüsement mehr nötig ist.

In einer verschuldeten Stadt, der allgemein dahinsiechenden Wirtschaft und mit 300 arbeitslosen Hauptstadtjournalisten ist es eng geworden. Beim Interviewing lassen sich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Raus aus der freiberuflichen, bohemistischen Scheinexistenz, den Zwang der ewigen Kreativität abstreifen, echte Stundenlöhne verdienen. Es kann so befreiend sein, Karten abzureißen. Herrlich, sich mal nichts ausdenken. Zudem ist Interviewing ein preiswertes Vergnügen: Sonntags Mopo und Tagesspiegel kaufen, los geht’s. Aushilfs- und Nebentätigkeiten versprechen bei dem Vorstelling den größten Thrill, je anspruchsvoller der Job hingegen, desto langwieriger die Bewerbung, das verschwendet Papier, Zeit und Formulierungsenergie. Bei so einem Vorstellungsgespräch kommt man rum, lernt neue Welten kennen. Fährt man zum Beispiel die Brunnenstraße immer weiter geradeaus, so ist man bald in Wilhelmsruh: dörfliche Stille, leere Felder. Das alte Spiel, war das jetzt Ost oder West, bietet sich an. Schwierig, sieht es in Berlin doch immer mehr auf beiden Seiten gleich trist aus. Bald tut sich das Märkische Viertel, von Einheimischen zärtlich MV genannt, auf. Auch das ist Berlin, auch hier leben Menschen, gibt es Plus und Rossmann, auch hier kann man sich vorstellen.

Praktikaanbieter, die Bewerber mit Ausbildung plus Studium, plus zwei exotischen Fremdsprachen, plus Führerschein und eigenem Pkw, leider ohne Entlohnung suchen, sollte man boykottieren. Auch von den Callcenter-Informationsgesprächsrunden ist generell abzuraten, finden diese doch gern in reizlosen Ecken wie Hacke’scher Markt oder Kurfüstenstraße statt. Kennt man eine, kennt man alle.

Wichtig ist die Frage der Selbstpräsentation: Wird zum Beispiel eine Bürohilfe gesucht. ist es nicht vorteilhaft mit Hochschulabschluss, Computerkenntnissen und buchhalterischen Fähigkeiten zu protzen, denn die ablehnende Antwort könnte lauten: „Wir brauchen aber nur jemand, der Kaffee kocht und Weihnachtsgeschenke einpackt.“ Interviewing ist eine ständige Gratwanderung zwischen Über- und Unterqualifizierung. Wer da glaubt, für die Hausaufgabenbetreuung von Grundschulkindern geeignet zu sein, stellt bald fest, dass sich für den 6,60-Euro-Job auch ausgebildete Pädagoginnen, Gymnasiallehrer und hochmotiverte Erzieher bewerben. So lernt man beim Interviewing immer etwas dazu.

Club Neustadt, Chauseestraße, Tocotronic-Backstageparty, Suicide, was ist das alles gegen das Vergnügen des Interviewings! Und jetzt noch die Superausgehtipps für die nächste Woche: Powerfrauen fürs Aloe-Vera-Team gesucht, Gruselkabinett sucht brillenlose Studenten, Treutestagentur sucht selbstbewusste Frauen für Detektivarbeit. CHRISTIANE RÖSINGER