: Keine Angst vor Germanisten
Schüttelreim und penetranter Plauderton, Partyerlebnisse und ein toter Onkel: Der Open Mike in der Literaturwerkstatt zeigte sich auch in seinem zehnten Jahr als unerschöpfliche Fundgrube für literarische Nachwuchstalente im deutschsprachigen Raum
von ANSGAR WARNER
Nach dem Umzug der Pankower Literaturwerkstatt nach Prenzlauer Berg fand am Wochenende zum ersten Mal auch der Nachwuchswettbewerb „Open Mike“ in der Kulturbrauerei an der Knaackstraße statt. Während im teuren Kino gegenüber die Besucherströme nur spärlich plätscherten, waren in der Literaturwerkstatt seit dem frühen Samstagnachmittag die Sitzreihen bestens gefüllt. Was auch daran lag, dass die Veranstaltung noch im räumlich begrenzten Provisiorium stattfinden musste.
Doch die Veranstalter können sich trotzdem auf die Schultern klopfen. Der seit 1993 etablierte Literaturpreis kann auf zehn erfolgreiche Jahre zurückblicken. Mehr als 6.000 junge Schreibende haben sich in diesem Zeitraum mit zuvor unveröffentlichter Lyrik oder Prosa dem Urteil der prominenten Juroren gestellt. Da neben literaturbegeisterten Zuhörern auch Lektoren, Scouts und Agenten vor Ort die Ohren spitzen, ist der Open Mike inzwischen zum wichtigsten Karrieresprungbrett für den literarischen Nachwuchs im deutschsprachigen Raum geworden. So hat etwa Tilman Rammstedt, Gewinner des letzten Jahres, längst einen Vertrag mit dem Dumont-Verlag, sein erstes Buch erscheint Anfang 2003. Nimmt man die Veröffentlichungsliste früherer Preisträger hinzu, hat man ein Branchenverzeichnis der großen deutschen Verlage vor sich.
Der Statistik zufolge kamen übrigens von den bisherigen Bewerberinnen und Bewerbern drei Viertel aus dem akademischen Milieu, die meisten davon – das pflegen die Veranstalter zu betonen – aber gerade nicht aus dem Bereich Philosophie und Philologie. Doch dieses Mal war das ein bisschen anders. Schaute man auf die Vita der Teilnehmer, musste man fast den Verdacht hegen, die Germanisten hätten beschlossen, von nun ab auch die komplette Primärliteratur zu übernehmen. Doch bereits der erste präsentierte Text konnte die Furcht vor trockener Seminarprosa zerstreuen, obwohl auch seine 1979 geborene Autorin Ariane Grundies Germanistik und am Literaturinstitut Leipzig studiert hat. Mit „Götterspeise“ schilderte sie ein beschwipst melancholisches Partyerlebnis, das leicht und unverkrampft wie ein Werbespot für Ostzigaretten daherkam und am Ende von der Jury, in der die Autoren Ulrike Draesner, Josef Haslinger und Birgit Kempker saßen, den mit 1.000 Euro dotierten dritten Preis bekommen sollte.
Tiefschürfender, aber auch etwas gestelzter gerierte sich Achim Stricker. In „Leichenfett“ ließ der Tübinger Philologe die Verbrechen der Wehrmacht zusammen mit den männermordenden Essgewohnheiten der deutschen Nachkriegszeit fünfzehn Minuten lang schmoren. Dann klingelte im Off ein kleiner Küchenwecker, aber das ist beim Open Mike immer so. Denn auch wenn das Berliner Event grundsätzlich der Tradition des Poetry Slam verpflichtet ist, wird niemand vor der Zeit ausgegongt oder abgepfiffen. Obwohl man sich kurz darauf bei der sprühenden Kurzprosa von Tom Schulz schon ein wenig vorkam wie bei einem veritablen Slam-Festival: „Der Avantgardist, der keiner ist“ war der schüttelreimende Titel einer der Kurztexte. Was anfänglich wie normale Prosa daherkam, löste sich in assozoziationsreiche Wortkaskaden auf.
Danach wurde es fast seriös. Mit Christian Schünemanns Krimifragment „Der Frisör“ kamen die Freunde des gepflegten Verbrechens auf ihre Kosten. Der 1968 geborene Slawist und Journalist Schünemann überzeugte nicht nur inhaltlich durch intime Schilderungen aus dem Arbeitsalltag eines Haarstylisten – auch der penetrante Plauderton passte haargenau ins Milieu und wurde dafür später mit dem mit 1.500 Euro dotierten zweiten Preis gekürt. Die Tschechin Milena Oda, die in Düsseldorf lebt und ebenfalls Germanistik studiert, beschrieb in ihrem Wettbewerbstext „Auf Schritt und Tritt“ mit karikaturhafter Akkuratesse die Gehgewohnheiten eines fiktiven Versuchsobjektes namens Jean-Paul.
Ganz am Ende dann las der 1968 geborene Kai Weyand, der im Freiburger Literaturbüro arbeitet, einen um sich selbt drehenden Text über einen traurigen Helden, der Dienstage langweilig findet und deshalb an einem Dienstag seinen Onkel Bruno ermordet haben will. Er erzählt die Geschichte dieses Onkels, nimmt sie als nur erfunden wieder zurück, erzählt eine andere, eine noch melancholischere, stellt auch sie wieder nur als ausgedacht dar, und man fragt sich am Ende, warum sie, obwohl man ihr nicht trauen darf, trotzdem so berührend ist. Auch wenn man der Entscheidung der Jury, Weyand den ersten, mit 2.500 Euro dotierten Preis zu verleihen, zustimmen muss, war man am Ende doch froh, dass die Prämie wieder auf drei Preisträger verteilt werden konnte. Denn der 10. Open Mike hat erneut gezeigt: Es gibt mehr Nachwuchsliteraten als das Siegertreppchen Stufen hat.
In der Nacht zum 14. 11. sendet DeutschlandRadioBerlin ab 0.05 Uhr ein Feature zum 10. Open Mike
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen