Den Boden spüren

Schwarzbrot statt Gitarre: Zum SoloDuoFestival im Theater am Halleschen Ufer zeigt Paula E. Paul mit „planta del pie“ eine autobiografische Arbeit

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Das spanische Wort für Fußsohle heißt „planta del pie“. So nennt die Tänzerin Paula E. Paul ihren neuen „Tanzabend am Rande des Flamenco“. Einmal wollte sie nach Spanien ausreisen und durfte nicht – da lebte sie noch in der tiefsten DDR und fühlte sich mit dem spanischen Tanz wie auf einer einsamen Insel. Mit niemandem konnte sie sich messen, kaum neue Choreografien des Flamenco verfolgen. Und wenn sie sich doch einmal heimlich mit drei Tänzern aus Spanien in einem Transit-Raum an der Autobahn traf, war das zwar aufregend, aber nicht sehr ergiebig. Später, nach der Wende, konnte sie nach Spanien reisen und wollte nicht mehr, denn da hatte sie sich schon „ihren eigenen Flamenco gebastelt“. Der fühlt sich anders an, ist keine Kopie einer fremden Geschichte oder der Mythen von Liebe und Tod. „Ich kopiere doch nichts, was ich nicht gelebt habe“, sagt Paula E. Paul.

Für sie war Flamenco nie Ausdruck von Schwermut und Archaik, sondern eine Form von Widerstand und Kraft. Sie wollte Tänzerin werden, unbedingt, aber die Maßstäbe der Ballettschulen in der DDR drückten mit ihren Normen auf diesen Traum. Noch heute erinnert sie sich an die Studienzeit in Leipzig voller Unbehagen, wie an einen Akt der Zerstörung von ursprünglicher Bewegungslust. Nur in den Stunden für spanischen Tanz konnte sie aufatmen: „Endlich mal aufstampfen können, endlich mal den Boden unter sich spüren. Das war eine Befreiung.“

Drei Jahre lang tanzte sie in Gera als Elevin in Operetteneinlagen, dann hatte sie genug davon, am „Stadttheater verbraten zu werden“. Die Erinnerung aber, wie die kleinen Schwänchen aus dem Schwanensee-Ballett in ihren zierlichen Pas de chat jahrelang von der Sehnsucht zehren, einmal in die heroischen Gesten der Schwanenkönigin einzutreten, ist in ihrem Stück „planta del pie“ aufgehoben. Am Ende der Szene verselbstständigen sich ihre Füße und machen sich in einem anderen Rhythmus davon.

Noch heute ist sie froh, dass sie 1987, mit 23 Jahren, in Gera kündigte und seitdem als „freie“ Tänzerin arbeitet. Zu viele hat sie gesehen, die fünfzehn Jahre lang am Stadttheater ausharrten, in der Hoffnung, sich dann mit ihren Tänzerpensionen selbstständig zu machen, und dabei ihre Kraft verloren. Der Flamenco aber wurde für sie und ihren Musiker Ralf Krause, der in „planta del pie“ wieder ihr Partner ist, zu einer Art Konterbande. „Das war unbesetztes Gebiet, da gab es keine Raster.“

Lange hat Paula E. Paul mit den Regisseuren Thomas Guggi und Jo Fabian zusammengearbeitet. Der gemeinsame Ausgangspunkt war die Flucht aus den lähmenden Strukturen des Stadttheaters, dann „haben wir uns gegenseitig inspiriert“. In Fabians Stücken fiel sie auf: In „Lorca I: Frau in Schwarz“ setzten sie und Fabian den Flamenco so genial als Ausdruck der unterdrückten Lebenslust und der geheimen Sexualität ein und zündeten damit ein Feuer inmitten der minimalistischen Bilder vom erstarrten Leben, wie es keinem anderen Choreografen in den nächsten Jahren gelang. Lange störte es Paula E. Paul nicht, dass sie allein als Tänzerin von Fabians Stücken bekannt wurde, obwohl die Choreografien auf ihren Angeboten beruhten. Aber es stört sie heute, gefragt zu werden: „Und dies ist jetzt ihr erstes eigenes Stück?“.

Ist es nicht. Es ist nur das Erste, an dem sie zusammen mit einer Regisseurin Petra Bogdahn auf ihren eigenen Weg zurückblickt. Man hört keine Gitarren in diesem Stück, man sieht keine Rüschen. Am Anfang singt sie den Rhythmus des Flamencos leise, die Tradition wird nur skizziert. Dann aber mischt Ralf Krause, der mit Mischpult und Laptop neben der Tanzfläche sitzt, den Rhythmus ihrer Füße mit Geräuschen der Stadt und Techno-Sequenzen. Die „Puristas“ der Flamenco-Szene haben schon Musiker für viel geringere Abweichungen von der Tradition mit Ausschluss bestraft, weiß Krause. Aber Flamenco als Glaubensfrage und Reinheitsgebot hat ihn und Paula noch nie interessiert.

Mitten im Stück packt Paula E. Paul ihr Butterbrot aus. Kleine Energiezufuhr: „Dass man immer glaubt, Tänzer würden kaum etwas essen, ist großer Quatsch.“ Sie isst auf der Bühne und knistert mit dem Butterbrotpapier. „Kaum einer isst so viel wie Tänzer“, vermutet ihr Musiker, der das Knistern in den nächsten Rhythmus einbaut. Der Flamenco gilt als strenges Formvokabular, resistent gegen den veränderten Alltag. Dass es nicht so sein muss, dass er durchlässig ist für eine Gegenwart fern spanischer Mythen, weiß man nach diesem Stück.

„Planta del pie“, 13. und 14. November, 20 Uhr, Theater am Halleschen Ufer