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Verbotene Medizin

Der Cannabiswirkstoff THC darf nur in Reinstform verschrieben werden. Zwar können Schwerstkranke eine Sondererlaubnis für die Nutzung von Cannabis beantragen. Doch bisher ist von der Arzneibehörde noch kein Antrag positiv beschieden worden

von HILTRUD BAUR

Als Trixi Frings an Multipler Sklerose erkrankte, bot ihr ein Freund Cannabis an. Aber sie ließ die Finger vom Joint. „Ich dachte, der alte Kiffer findet Cannabis gut gegen alles“, berichtet die 49-Jährige. Erst als die Krankheit fortschritt, griff sie zu. Die schmerzhaften Muskelkrämpfe ließen nach und sie konnte sich wieder besser bewegen. Das war vor zwölf Jahren. Seither konsumiert Trixi Frings Cannabis – wie viele andere chronisch Kranke auch, die beim Selbstversuch eine Linderung ihrer Beschwerden erlebten.

Viele Jahre mussten sie sich ihre Arznei illegal besorgen. Seit Februar 1998 dürfen Ärzte den Wirkstoff Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) in Reinform verschreiben – unter dem Namen Dronabinol auf Betäubungsmittelrezept. Heute vertreiben zwei deutsche Firmen Dronabinol, das in Apotheken als Kapseln oder Tropfen verkauft wird.

Für manch anderen aber macht es erst die Mischung der über 60 bekannten Wirkstoffe. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2000 können Schwerkranke beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine Sondererlaubnis für Cannabis beantragen. Das Bundesinstitut hat aber bisher keinen Antrag genehmigt. Bis heute darf sich in Deutschland niemand legal mit der jahrtausendealten Heilpflanze behandeln.

Nächsten Monat wird ein Gremium des deutschen Apothekerverbandes entscheiden, ob ein standardisierter Cannabisextrakt zugelassen werden soll. Ob Ärzte den Extrakt verschreiben dürfen, wird dann die Politik entscheiden müssen.

Nicht nur Politik und Rechtsprechung, sondern auch die Forschung kam in den letzten zehn Jahren in die Gänge. Wissenschaftliche Studien belegen, dass Dronabinol Übelkeit und Erbrechen dämpft und den Appetit anregt. Davon profitieren vor allem Krebspatienten, wenn ihnen von der Chemotherapie schlecht wird. Auch Aidskranke können nach einem THC-haltigen Appetitanreger besser essen.

Der Stoff lindert zudem Muskelkrämpfe, die bei Rückenmarkverletzungen und Multipler Sklerose auftreten. Im Gegensatz zu anderen muskelentspannenden Medikamenten mindert es aber nicht die Muskelkraft. Die Beweglichkeit bleibt erhalten, soweit die Krankheit es zulässt.

Cannabis kann auch bei chronischen Schmerzen helfen. „Im Heilversuch finden wir heraus, wer von Dronabinol profitiert“, berichtet Gernot Ernst, Schmerztherapeut, Palliativmediziner und Oberarzt für Anästhesie im Krankenhaus Kongsberg in Norwegen. An der Berliner Charité leitete er bis vor kurzem die Arbeitsgruppe Schmerzforschung. Bei der rückblickenden Auswertung der Behandlungsergebnisse seiner Berliner Patienten fand er keine Regel, nach der man den Erfolg der Behandlung voraussagen könnte. „Bei manchen wirkt es sehr gut, bei anderen wenig oder überhaupt nicht. Das Problem kennen wir aber auch von anderen Schmerztherapien“, meint Ernst.

Wahrscheinlich wirkt Dronabinol vor allem gegen neuropathische Schmerzen. Sie entstehen, wenn ein Nerv zerstört wird wie zum Beispiel bei Diabetes oder Gürtelrose. Eine Charité-Studie untersucht die Wirkung des Cannabisextraktes auf lang anhaltende Gürtelrose-Schmerzen. Die Studienergebnisse werden Anfang des nächsten Jahres vorliegen. Auch Schmerzen, die mit Schädigungen des zentralen Nervensystems einhergehen, sprechen häufig auf Cannabis an. Betroffen sind Multiple-Sklerose- und Schlaganfallpatienten oder Rückenmarkverletzte.

Eine weitere Charité-Studie untersucht, ob eine auch niedrige Dosis von Gesamtextrakt beziehungsweise Dronabinol Appetit und Körpergewicht von Krebspatienten günstig beeinflusst. Die Teilnehmer wussten nicht, ob sie ein Scheinmedikament, THC oder den Extrakt schluckten. Zur Zeit wird die Studie ausgewertet.

Noch keine aussagekräftigen Studien gibt es über die Wirkung von Cannabis bei Asthma, Epilepsie oder der Augenerkrankung Grüner Star. Aber einzelne Betroffene berichten über eine Linderung von Krankheitssymptomen.

In den 90er-Jahren entdeckte man auch, wie THC im Körper wirkt. Bisher kennen wir zwei Arten von Cannabis-Rezeptoren (CB). CB1-Rezeptoren kommen vor allem in Gehirn und Nervensystem vor. Dockt ein THC-Molekül an, beeinflusst es zum Beispiel Schmerzempfinden, Gedächtnis, Reizverarbeitung. CB2-Rezeptoren finden sich überwiegend an Zellen des Abwehrsystems. Dort wirken sie vermutlich eher hemmend als stimulierend.

Doch THC macht auch den Rausch. Und deswegen wurde Cannabis verboten. „Die medizinische Wirkung tritt aber oft schon bei sehr geringer Konzentration unterhalb der Rauschschwelle ein“, meint Gernot Ernst. Die Behandlung beginnt mit einer geringen Dosis, die sich bei Bedarf langsam erhöht. Setzt innerhalb von zwei Wochen keine Wirkung ein, ist auch keine mehr zu erwarten.

In der Regel genügen 10 bis 20 Milligramm THC pro Tag. Ein starker Kiffer konsumiert etwa 400 Milligramm. Wer Cannabis oder Dronabinol aus medizinischen Gründen nimmt, hängt also weder ab, noch wird er abhängig. Aufpassen müssen aber Herzkranke. Denn THC beschleunigt den Herzschlag und steigert so den Sauerstoffbedarf der Herzmuskulatur.

Nicht alle mögen THC in Tropfen- oder Kapselform. Trixi Frings zieht Haschischkekse vor. Auf Tropfen steigt sie nur um, wenn sie Ärger vermeiden will, zum Beispiel auf Reisen.

„Mit Keksen kann ich die Wirkung am besten steuern. Zwei Stunden nach dem Essen kann ich sogar meine Beine hochziehen“, erklärt die Rollstuhlfahrerin. Die Kekse backt sie selber. Für zehn Gramm Haschisch bezahlt sie 50 Euro. Drei Wochen kommt sie damit aus.

Dronabinol auf Rezept kostet viel mehr. Aber die Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen ist nicht einheitlich geregelt. Wer Pech hat, muss selber zahlen. „Meine Kasse übernimmt Dronabinol. Heute hätte ich nicht mehr die Power, dafür zu kämpfen“, meint Trixi Frings.

Weitere Infos: www.acmed.org

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