Die Mauerfall-Diät

Wenn die Hose nicht mehr an den Beinen spannt: „Sprenger“ ist das Romandebüt des ehemaligen taz-Chefredakteurs Arno Widmann

Sprenger wird dünner, und im fernen grauen Europa geht die DDR ihrem Ende entgegen

Arno Widmann will ganz offensichtlich vor allem verstanden werden. Darum hat er in seinem Debüt weniger eine Geschichte erzählt, als vielmehr eine Reihe von Zeichen gesetzt. Das erste Zeichen ist der Titel des Buchs und verheißungsvoll aufrührerisch: „Sprenger“. Der gleichnamige Protagonist ist eine Mischung aus Gargantua und Oblomow, riesenhaft und faul, und wie es sich gehört, ordentlicher Professor der Philosophie, Fachrichtung Hermeneutik. Seit seiner Dissertation hat er so gut wie keine Zeile Text mehr veröffentlicht, aber das ist nicht weiter verwunderlich, denn er selbst ist es, der gedeutet und verstanden werden will.

Sprenger, durch seinen Leibesumfang kaum noch fähig, die eigene Wohnung im zweiten Stock zu erreichen, ist ein Meister der leichtfüßigen Konversation. Im heimischen Berlin nutzt er zum Reden gern seine Seminare, die stets möglichst abseitige Themen behandeln, um die Teilnehmerzahl zu minimieren. Vor allem aber ein viermonatiger Aufenthalt in einem mexikanischen Luxushotel gibt ihm die Möglichkeit, befreit von irdischen Sorgen und europäischem Klima endlose Gespräche zu führen, die zwischen den sexuellen Präferenzen mittelalterlicher Kalifen und der ökonomischen Zukunft der gerade untergehenden DDR nichts auslassen. Als Gesprächspartner dienen ihm ein befreundetes Professorenpaar, eine Gruppe schwerreicher Unternehmer und Anwälte, eine beziehungskranke deutsche Surferin und ein mexikanischer Arzt samt vielköpfiger Sippe.

Mächtige Diskurse ragen drohend von allen Seiten in den Text hinein, der schon von Gerhard Sprenger allein gut gefüllt würde. Doch das ist Arno Widmann, der von 1994 bis Anfang 1995 Chefredakteur der taz war, offensichtlich zu wenig. Er lässt seine Figuren mit Philosophiegeschichte und Weltgeschehen nur so um sich werfen. Wehe allen, die die Zeichen nicht zu verstehen wissen – schließlich war auch der Fall der Mauer nur das Ergebnis einer fehlerhaften Textexegese durch Schabowski!

Kritik, so des Autors Wink mit dem Zaunpfahl, darf nur zu verstehen sein als die richtige Auslegung. Zu deuten gibt es immerhin einiges. Zum Beispiel Sprengers Fettleibigkeit. Mit viel Liebe zur Gemeinheit beschreibt Widmann die Mühen des allzu vielen Fleisches, den Kampf mit jeder Treppe und jedem Stück Wegs, die Erniedrigungen auf der Toilette und im Schwimmbad. Sprenger ist so gewaltig, dass seine Dickheit nur eine Metapher sein kann.

Das Gleiche gilt für sein Abnehmen. Denn ohne es zuerst zu bemerken, verändert er sich in der Sonne des Südens. Er isst gesünder, verbringt viel Zeit draußen und bewegt sich dabei sogar, mit dem Effekt, dass schon nach zwei Monaten die Hosen an den Beinen nicht mehr so spannen. Sprenger wird dünner, und im fernen grauen Europa geht die DDR ihrem Ende entgegen. Symbolisch rauscht es durch die Seiten.

Doch wo die Interpretationsnot am größten ist, wachsen auch Widerstände und Zweifel. Widerstände gegen die Beschränkung des Lesers und Kritikers auf den Hermeneutiker, Zweifel, ob all das am Ende „ein gutes Buch“ ergibt. Wenigstens ist es nicht so dick wie sein Protagonist. Doch wie soll man es am Schluss auffassen, wenn Sprenger kurz nach seiner Rückkehr ins Berlin der Wende frisch verliebt auf banalste Weise in den eigenen Tod stürzt? Ist das die nihilistische Zurückweisung aller Sinngebungsversuche der Philosophiegeschichte, die zuvor diskursiv zwischen zartem Zicklein und flambiertem Pudding durchgekaut wurden? Oder ist dem Autor nun zu seiner Figur nichts Rechtes mehr eingefallen? Schon davor hat er sie reichlich unmotiviert von einem Ort an den anderen verschoben. Warum ist Sprenger überhaupt in dieses mexikanische Hotel eingeladen worden?

Die hermeneutische Arbeit am Text hat bereits begonnen, und so ist in anderen Rezensionen vermutet worden, der Roman beschreibe das Verschwinden des Politischen. In gewisser Weise aber sorgt das Politische in diesem Fall auch für ein Verschwinden des Literarischen. Während sein Protagonist jeden Rahmen sprengt, bleibt Widmann weitgehend in den Konventionen eines süffisant-zynischen Konversationsromans verfangen. Hauptsache, es wird geredet. Das liest sich leicht, streckenweise äußerst geistreich und amüsant, doch man wird den Verdacht nicht los, dass die Zeichen dieses Romans so dick sind, um eine dahinter liegende Leere zu verbergen.

SEBASTIAN DOMSCH

Arno Widmann: „Sprenger“.Folio, Wien 2002. 350 S., 19,50 €