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Tropische Kreuzwege

Kult und Alltag: Ausstellungen über „Die Kultur der Favelas“ im Brasilianischen Kulturinstitut und „Schwarze Götter, weiße Heilige“ in der ifa-Galerie zeigen die Kontraste des modernen Brasiliens auf

von MICHAEL NUNGESSER

Sie gehören zu Rio de Janeiro wie der Zuckerhut: die auf den Hügeln rund um das Stadtzentrum gedrängten Favelas. In Rio gibt es rund 560 dieser bunt zusammengewürfelten Armensiedlungen, in denen mit zwei Millionen Menschen fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung der Stadt lebt – auch der neue brasilianische Präsident Lula da Silva ist in einer solchen Favela aufgewachsen. Das Brasilianische Kulturinstitut in Berlin hat sich nun mit einer vom Goethe-Institut in Rio de Janeiro organisierten Ausstellung der „Kultur der Favelas“ angenommen. Die Ausstellung ist Teil eines interkulturellen Projekts, das der ehemalige Leiter des Goethe-Instituts, Klaus Vetter, ins Leben gerufen hatte. Durch künstlerische Mittel sollen die Grenzen zwischen den sozialen Welten durchlässiger werden, zwischen dem Zentrum der Stadt und den Favelas, in denen eigene, oft von Drogenbaronen und Kriminellen diktierte Gesetze herrschen. Vier Fotokünstler versuchen, Wege in das für Außenstehende unergründliche urbane Chaos zu bahnen: Pedro Lobo und Janaina Tschäpe aus Brasilien, Thomas Florschuetz und Michael Wesely aus Deutschland.

Lobo und Wesely arbeiten mit Fernsichten und Panoramen. Lobo nutzt seine Aufnahmen gleichsam als Folie, auf die er Guckkästen setzt – in ihnen sieht man, wie in einem Teleskop, Details vom alltäglichen Straßenleben. Weselys „Vision des Paradies“ zeigt die grandiose Stadt-Landschaft zwischen Meer, Strand und bewaldeten Hügeln, in der soziale Gegensätze unsichtbar bleiben. Erst das im Fotoshop erzeugte Unscharfmachen des einen oder anderen Teils der Stadt lässt die Brüche erkennen.

Florschuetz’ Fotos, mosaikartig als offenes Tableau auf die Wand gesetzt, gleichen Bruchstücken eines Labyrinths: Ausschnitte von Mauern, roh oder verputzt, kahl oder mit Graffitis, von Treppen und Ecken – Menschen gibt es keine. Tschäpe dagegen inszeniert Fantasien: Ihre Frauen der Favela, die sie „Chamäleonnen“ nennt, spielen sich selbst – als Priesterinnen, Heroinen, Hexen.

Auch die Ausstellung „Bahia de Todos os Santos. Schwarze Götter, weiße Heilige“ in der ifa-Galerie bezieht sich auf typisch Brasilianisches: Candomblé, die synkretistische Religion, die im nordöstlichen Bundesstaat Bahia mit der Hauptstadt Salvador ihren Schwerpunkt hat. Candomblé ist von ehemaligen, meist westafrikanischen Sklaven als eine Art Überlebensstrategie entwickelt worden. In ihr mischen sich Katholizismus, indianische Riten und schwarzafrikanische spiritistische Traditionen.

Der 1996 verstorbene Franzose Pierre Edouard Léopold Verger hat sein ganzes Leben lang den Candomblé erforscht. Seine Schwarzweißfotos aus Salvador, Recife und Dahomey (Benin) dokumentieren Initiationsriten, Prozessionen und Karnevalsumzüge, aber auch das Straßenleben von Salvador. Der Fotograf Mario Crevo Neto wiederum hat Aufnahmen aus dem Bauch der Stadt gemacht: Früchte, Blumen, Leiber, Altäre und Heilige, Trommeln und Kanonenrohre, alle in satten Farben.

Die Verbindung von Alltag und Kult ist auch die Folie für das in Foto und Video dokumentierte „Projekt Axé“ des Aktionskünstlers Marepe, der aus Herstellung und Verteilung bunter Zuckerwatte eine fantasievolle Straßenaktion organisierte. Und Eriel Araújos Installation bezieht den Ausstellungsbesucher mit ein. Unter einem mit Wachs beschichteten Metallgestell befinden sich Kerzen zum Anzünden. Schmilzt das Wachs, gibt es Spiegel frei, in dem man sich kurzfristig sehen kann: das Heilige – es ist in uns selbst.

Brasilianisches Kulturinstitut, Schlegelstr. 26–27, bis 29. 11; Mo.–Fr., 11–16 Uhr / ifa-Galerie, Linienstr. 139–140, bis 22. 12; Di.–So., 11–19 Uhr, Katalog 10 Euro.

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