: Im Auftrag ewiger Trübseligkeit
Ein halbes Jahr lebten Madrugada in Berlin und erkundeten die dunklen Seiten der Hauptstadt, bevor es die Band wieder nach Oslo zog. Mit frischem Ingrimm kehren die vier Norweger nun zum Konzert in ihre Wahlheimat zurück
In Oslo regnet es einen herbstlichen Regen. Man kann sie fast hören durchs Telefon, die feuchte Kälte. Sivert Høyem ist gedämpfter Stimmung. „Ich war enttäuscht, als ich zurück nach Norwegen musste“, sagt er, und es klingt weniger enttäuscht als eher teilnahmslos. „Ich mag Oslo nicht besonders, hier fühlt man sich so beobachtet. Berlin war nicht so aufgeräumt und geordnet, Berlin war sehr viel freier.“
Ein halbes Jahr lebte Høyem in Berlin, bis zum vergangenen Juli, um zusammen mit dem Rest von Madrugada das dritte Album der Band aufzunehmen, deren erste beide Platten in ihrer Heimat auf Position 1 der Charts einstiegen. Die neue, namens „Grit“, muss sich bislang noch mit Platz 4 bescheiden, hat aber im Weihnachtsgeschäft auch mit Schwergewichten wie den Rolling Stones zu konkurrieren.
Nach Berlin war man gekommen aus vielerlei Gründen: Zum einen lebt Bassist Frode Jacobsen schon seit zwei Jahren der Liebe wegen in Friedrichshain. Zum anderen konnte sich das Quartett hier anonym und unbelästigt den Aufnahmen widmen. Und nicht zuletzt, erzählt Høyem, „ist das Leben in Berlin halb so teuer wie das in Oslo, was Mieten angeht und um die Häuser ziehen.“ Und kostet wahrscheinlich sogar nur ein Viertel von dem in Hoboken, New Jersey, wo sie ihre zweite Platte aufgenommen hatten. Also zog Høyem in die Kreuzberger Wrangelstraße und genoss es, dass „Berlin gerade dort nicht allzu deutsch ist, sondern offen und tolerant. Die Stadt ist auf der Suche nach ihrer Identität, und das gefällt mir.“
Ein anderer, nahe liegender Grund für die Übersiedlung einer vollständigen Rockband spielte aber angeblich keine Rolle: der spezifische Berlin-Mythos. Dabei finden sich unter Madrugadas Vorbildern viele Namen, die eine Zeit lang in Berlin gelebt haben: Einflüsse von Nick Cave oder Lou Reed sind aus den dichten, bedrohlich schwärenden Songs unschwer herauszuhören. Und schließlich begann man die Karriere mit fleißigem Nachspielen von Iggy & The Stooges. „Aber unser Aufenthalt in Berlin“, wehrt Høyem ab, „sah sehr viel anders aus als der von David Bowie oder Lou Reed. Die haben entschieden mehr Drogen genommen.“ Das mag so sein. Doch kann man davon ausgehen, dass die norwegischen Teilzeitberliner zumindest die geringere Alkoholbesteuerung zu schätzen wussten, bevor es wieder zurück ging in die Heimat, weil Gitarrist Robert Burås und Trommler Simen Vangen die alten Freunde zu sehr vermissten.
Während die ersten beiden Alben eher romantisch verträumt waren – zwar Rockmusik, aber doch weitestgehend in langsamem Tempo mit melancholischer Grundstimmung –, lugen nun die Sisters of Mercy ums Eck, vor allem durch den wachsweichen Bariton von Høyem. Live erinnern sie mitunter entschieden an die Doors, aber „Grit“ ist sehr viel härter und düsterer geraten. „Berlin hatte offensichtlich einen Einfluss“, erklärt Høyem, „denn Berlin hat auch eine dunkle Seite: urbane Einsamkeit, verzweifelte Klaustrophobie – das kann man hören.“ Und wenn es nach ihm geht, sogar einen gewissen 70-er-Jahre-Krautrock-Einfluss von „Neu und vor allem Can“.
Mit diesem Eindruck dürfte er weitgehend allein bleiben, eher schon ist unüberhörbar, dass „Grit“ entschieden in Richtung Hard Rock stapft. „In gewisser Weise geht die Platte zu unseren Wurzeln zurück“, erinnert sich Høyem an die frühen Coverversionen, „wir wollten immer mal ein hartes Rock-’n’-Roll-Album machen“. Und muss noch im selben Atemzug einschränken: „So hart ist es aber gar nicht geworden. Härter können wir wohl nicht.“
Dieses Kapitel aber scheint beendet. „(Ghost) Loves Institution“, der Hidden Track am Ende von „Grit“, weist stattdessen mit einem Rhythmus aus der Beatbox in eine ganz neue Richtung. Der Rest der Band würde gerne elektronischer werden, Jacobsens Freundin legt Drum & Bass auf, berichtet Høyem, er selbst aber sieht noch eine ganze Menge Historie an Blues, Folk, Gospel und Soul abzutragen.
Wie auch immer es weitergehen wird mit Madrugada: Wichtiger scheint ohnehin die Frage, wohin. Längst sind die Überlegungen im Gange, in welcher Stadt denn das nächste Album aufgenommen werden soll. Was kommt nach New Jersey und Berlin? Die anderen, erzählt Høyem, wollen noch nicht so recht, aber ihm schwebt Lissabon vor oder Barcelona. „Ich habe die wohl etwas romantische Vorstellung, dass man dort das Südkalifornien von Europa finden kann. Ich war immer ein großer Fan psychedelischer Musik. Außerdem kann man da jederzeit an den Strand gehen.“ Aber, fügt er noch hinzu, vielleicht wird’s auch einfach wieder Berlin. Ist schließlich billig hier. Und regnet fast genauso oft wie in Oslo.
THOMAS WINKLER
Madrugada: „Grit“ (Virgin). Heute Abend spielen Madrugada ab 21 Uhr, Columbiahalle, Columbiadamm 9–11
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