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„People Power“ für die ethnische Säuberung

Nigerias gewählte Regierung ist immer machtloser gegenüber lokalen Milizen. Kurz vor den Wahlen wittern ihre Gegner Morgenluft

BERLIN taz ■ Die Absage des Miss-World-Wettbewerbs ist für Nigeria mehr als ein Prestigeverlust. Es ist ein Eingeständnis der Machtlosigkeit des Zentralstaats. Die islamistischen Milizen haben die Regierung in die Knie gezwungen.

Soldaten kamen erst, als alles vorbei war. Früher hätte Staatchef Olusegun Obasanjo in solchen Fällen die Armee zum Kampfeinsatz geschickt. Unzählige Male hat er dies getan, seit er 1999 gewählt wurde und 16 Jahre Militärdiktatur beendete, vor allem in den Ölfeldern des Niger-Flussdeltas und in den dünn besiedelten Hochlandstaaten an der Grenze zu Kamerun. Im Februar 2000, als zuletzt islamische Milizen in Kaduna auf die Jagd gegen Christen und Südnigerianer gingen und über 2.000 Menschen starben, setzte auch erst ein Militäreinsatz dem Blutvergießen ein Ende.

Seit diesen Pogromen ist Kaduna ethnisch und religiös geteilt, ein Symbol der schleichenden Jugoslawisierung von Afrikas bevölkerungsreichstem Land. Der Autoritätsverfall des Zentralstaates beschleunigt sich mit jedem neuen ethnischen Kleinkrieg – 60 davon mit 1.713.306 Vertriebenen seit der Demokratisierung zählte Polizeichef Tafa Balogun im September. Die Krieger sind dabei keineswegs marodierende Banden. Sie sind strukturierte Milizen unter der Protektion der Mächtigen und Reichen ihrer Region. Sie, nicht die föderalen Sicherheitskräfte, üben in der Mehrzahl der 36 Bundesstaaten des Landes inzwischen mehr oder weniger legal die Polizeigewalt aus. In den multikulturellen Großstädten Nigerias sind sie eine Form von „People Power“ mit der ständig latenten Bereitschaft zur ethnischen Säuberung.

Je näher die nächsten Wahlen von April 2003 rücken, desto konkreter wird die Gefahr, dass sich diese Milizen in Bürgerkriegsarmeen im Sold der Mächtigen verwandeln. Die traditionell herrschende Elite aus Militärs und nordnigerianischen Geschäftsleuten, die bei den Wahlen 1999 ihre Macht an den Christen und Südnigerianer Obasanjo verlor und dies nie verwunden hat, leistet hierbei die Pionierarbeit.

Ihr Hebel dafür war die Erweiterung der islamischen Scharia-Rechtsprechung im Norden des Landes vom Zivilrecht auf das Strafrecht zwischen 1999 und 2001. Mit ihren Begleiterscheinungen wie Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit, mit den Steinigungsurteilen und Amputationen, die gegen Nigerias säkulare Bundesverfassung verstoßen, bedeutet die Scharia-Ausweitung eine faktische Sezession und eine Demonstration der Macht. Nigerias Regierung hat dies nie unterbunden. Nur Bundesgerichte haben das getan, zum Beispiel bei der Aufhebung des Todesurteils gegen die zum Tode durch Steinigung verurteilte Safiya Husseini im März.

Wenn die Rettung von Nigerias Charakter als säkularer Bundesstaat zur Aufgabe von Richtern wird, weil das Volk sich lieber in ethnisch-religiöse Identitäten flüchtet und die Regierung nichts unternimmt, hat die Demokratie schlechte Karten. Falls die Herrschaft der Milizen weiterwächst, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wieder irgendein General im Namen von Recht und Ordnung die Institutionen hinwegfegt – wie so oft in Nigerias Geschichte.

Auch das ist Teil des Kalküls von Obasanjos Gegnern. Seit Monaten arbeiten beide Kammern des nigerianischen Parlaments an einem Amtsenthebungsverfahren gegen den Staatschef. Die Parlamentarier stellen Obasanjo vor die Wahl: Rücktritt oder Amtsenthebung. Der Präsident will demgegenüber durch seine Wiederwahl im April 2003 beweisen, dass das Volk hinter ihm steht. Eine Gruppe eminenter „Elder Statesmen“ hat Obasanjo nun einen Deal vorgeschlagen: Wenn er auf eine weitere Präsidentschaftskandidatur verzichtet, zieht das Parlament sein Amtsenthebungsverfahren zurück. Dann allerdings wäre die Straße frei für die Rückkehr des Exmilitärdiktators Ibrahim Babangida an die Macht, der Nigeria während seiner Herrschaft 1985–93 wirtschaftlich ruinierte und seither einer der reichsten Männer des Landes ist.

Von sauberen Wahlen kann dabei keine Rede sein. Es ist noch nicht einmal klar, welche Parteien antreten dürfen und ob Präsidentschafts-, Parlaments-, Gouverneurs- und Kommunalwahlen alle auf einmal stattfinden oder an vier aufeinander folgenden Terminen. Die Wählerregistrierung im September produzierte groteske Ergebnisse: 60 Millionen Nigerianer im wahlfähigen Alter registrierten 66 Millionen Namen – und trotzdem stehen Millionen Menschen nicht auf den Listen.

In den letzten Wochen sind zahlreiche Minister zurückgetreten, um sich auf eigene Wahlkämpfe vorzubereiten. Die Regierung zerfällt in aller Öffentlichkeit; Soldaten und Milizionäre wüten ungestraft; jeder Bundesstaat macht im Justiz- und Polizeibereich, was er will; ungeklärte Morde an prominenten Demokraten häufen sich. Nigeria steht vor einem Schicksalsjahr, und die Gewalt von Kaduna ist die düstere Ouvertüre. DOMINIC JOHNSON

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