: Die Einheit der Vielfalt
„Die Kunst muss international werden, oder sie wird aufhören zu sein“: Die Ausstellung „!Avantgarden! Kunst in Mitteleuropa 1910–1930“ im Gropius-Bau zeigt, was uns bei den Moskau-Berlin- oder Berlin-Paris-Ausstellungen alles vorenthalten wurde
von BARBARA KERNECK
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren alle in dieser Ausstellung repräsentierten KünstlerInnen sehr jung und müssen in verschiedenen mitteleuropäischen Regionen an ihrem Verstand gezweifelt haben. Dann trafen sie sich und stellten fest, dass sie bei aller Verschiedenheit ähnlich dachten und arbeiteten. Danach fanden sie die eigenen Werke normal, ja vorbildlich. Und schließlich hörten sie vor lauter Begeisterung gar nicht mehr auf, gemeinsame Projekte durchzuführen. Das war mal in Wien oder Berlin, mal in Prag, Warschau oder Budapest. Diesen Prozess zeigt nun die Ausstellung „!Avantgarden! Kunst in Mitteleuropa 1910–1930“ im Martin-Gropius-Bau.
Es ist eine Art Wiedergutmachungsschau, denn sie zeigt, was bei den Moskau-Berlin- oder Berlin-Paris-Ausstellungen alles fehlte. Es sind fast 300 seltsam verletzlich wirkende Objekte: Gemälde, Skulpturen, Grafiken, Möbelstücke, Gefäße, Fotos und Dokumente. Ergänzt werden sie durch ein Programm mit Filmen aus ihrer Entstehungszeit. Der Katalog zeigt auf den ersten Seiten zwei Karten des Raumes, dem dies alles entstammt, eine von 1910 und eine von 1930. Wo sich auf der ersten noch bauchig Deutschland, Russland und Österreich-Ungarn blähen, gibt es auf der zweiten neue Filets: Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen, Litauen, Estland und Lettland. Deren bald wieder bedrohte Grenzen forderten die dort entstandenen künstlerischen Avantgarden zu ihrer Überwindung geradezu heraus.
Die Mobilität und Weltoffenheit der KünstlerInnen jener Epoche erscheint heute als erstaunliche Leistung. Zustatten kam ihnen dabei das Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Eisenbahnnetz. So konnte sich eine multinationale Gruppe von MalerInnen und SkulptorInnen 1922 auf dem Wege von Ost nach West in den Berliner Ateliers treffen, um schon wenige Tage später am Kongress der „Union internationaler fortschrittlicher Künstler“ in Düsseldorf teilzunehmen. In dessen Resolution hieß es: „Die Kunst muss international werden, oder sie wird aufhören zu sein.“ Schon 1913 hatten sich zahlreiche tschechische Künstler an dem vom Berliner Galeristen Herwarth Walden als Avantgarde-Schau organisierten Ersten Deutschen Herbstsalon beteiligt. Die erste öffentliche Sammlung moderner Kunst überhaupt entstand dann 1930 im Stadtmuseum Lodz.
Von den verschiedenen europäischen Avantgarden, die damals ein so effektives Netzwerk knüpften, sind uns meist nur die Namen einzelner Künstler bekannt, nicht aber die Künstlergruppen, denen sie angehörten – wie zum Beispiel László Moholy-Nagy dem Zirkel „Ma“. Diese Wissenslücke wird hier geschlossen. Das Nebeneinander von Berühmtheiten wie Walter Gropius, Wassily Kandinsky oder Constantin Brancusi mit noch völlig Unbekannten ist deshalb charakteristisch für diese Schau. In Prag die kubistische „Skupina“- Gruppe, in Posen der expressionistische „Bunt“ und in Zagreb die „Zenitisten“ – um in all dieser Vielfalt Einheit zu sehen, muss man schon ein wenig Abstand haben. So ist es nur logisch, dass das Konzept dieser Ausstellung in Los Angeles am Rifkind Center for German Expressionist Studies, von Timothy Benson und Monika Król, entwickelt wurde. In modifizierter Form war sie bereits in Los Angeles und München zu sehen.
Wenn auch russische Künstler keine Mitteleuropäer sind, so sind sie doch durch die Hintertür hier wieder hineingekommen. Weil zum Beispiel Berlin und Darmstadt für El Lissitzky viel zu wichtige Metropolen waren, als dass er sie links liegen lassen konnte. Sein „Proun-Raum“ von 1923 wurde im Gropius-Bau als Scharnier zwischen Architektur und Malerei rekonstruiert. Schließlich hatte man in Moskau sehr früh die Prinzipien des Konstruktivismus formuliert, der in den Zwanzigerjahren seinen Siegeszug durch ganz Europa hielt. Einer solchen synergetischen Zeugung neuer Strömungen setzten dann Faschismus, Stalinismus und Krieg auf lange Zeit ein Ende.
Viele der Objekte dieser Ausstellung werfen deshalb eher unheilschwangere Fragen auf. Zum Beispiel: Was ist aus Dr. Deyl geworden, für dessen Wartezimmer der tschechische Designer Joseph Gocár einen Schreibtisch entwarf? Und wer schrieb an diesem Tisch? Der Doktor oder die Wartenden?
Die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau in der Stresemannstraße geht bis zum 9. Februar, täglich (außer dienstags!) von 10–20 Uhr. Am 24. und 31. Dezember geschlossen
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