: Mit der Krise steigt die Sehnsucht
Die ostdeutsche Bestsellerautorin Jana Hensel hat sich auf die Suche nach einer real existierenden Kindheit gemacht.Ihr Buch „Zonenkinder“ erfindet keine Generation Trabbi, sondern markiert die kulturelle Angleichung zwischen Ost und West
von JAN BRANDT
„Sich erinnern ist immer von Nutzen, man kann es kaum jung genug tun“, schrieb der sechsundzwanzigjährige Klaus Mann in der Vorbemerkung seiner 1932 erschienenen Autobiografie „Kind dieser Zeit“ und fügte hinzu: „Den weltgeschichtlichen Veränderungen, denen wir, schnell oder langsam, entgegengehen, werden wir uns eher würdig und gewachsen zeigen, wenn wir unsere Herkünfte klären, als wenn wir in der panischen Stimmung des Aufbruchs alles zerstören, was hinter uns liegt.“
Die sechsundzwanzigjährige ostdeutsche Autorin Jana Hensel hat zwar keine Autobiografie geschrieben, dennoch verknüpft auch sie in ihrem Essay „Zonenkinder“ den eigenen Lebenslauf mit der Geschichte der vergangenen zwanzig Jahre. Und wie bei Klaus Mann wird ihr die Rückbesinnung auf die Vergangenheit zu einem Mittel, sich historisch zu verorten und daraus selbstbewusst einen eigenen Standpunkt für die Zukunft abzuleiten.
Ihre Kindheit endete im Herbst 1989. Damals war Jana Hensel dreizehn Jahre alt, lebte in Leipzig und beteiligte sich an den Montagsdemonstrationen. Die Wende wurde für sie zum Schlüsselerlebnis ihrer Jugend. Danach war alles anders. Nun, dreizehn Jahre später, begibt sie sich auf Spurensuche und findet wenig, mit dem sie sich im vereinten Deutschland identifizieren kann: „Ganz so, wie unser Land es sich gewünscht hatte, ist nichts übrig geblieben von unserer Kindheit.“
In der „panischen Stimmung des Aufbruchs“, vor der schon Klaus Mann gewarnt hatte, wurde 1990 nicht nur das politische und wirtschaftliche System beseitigt, sondern auch Fernsehserien wie „Das Krankenhaus am Rande der Stadt“, Comicfiguren wie Manne Murmelauge und Jugendzeitschriften wie die Trommel fielen dem neuen Zeitgeist zum Opfer. Der Sero-Altstoffhandel, mit dem die Teenager ihr Taschengeld aufbesserten, verschwand ebenso wie die rote Limonade, die im Volksmund Leninschweiß genannt wurde, oder die Fünfmarktreter, die so hießen, weil sie keinen eigenen Namen hatten.
Wie viele ihrer Altersgenossen hat Jana Hensel die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und die Zeit danach als Prozess der Anpassung an westdeutsche Lebensgewohnheiten erlebt. Ihrer Ansicht nach habe die Wende im Osten den Effekt gehabt, nur noch nach vorn zu schauen: „Unablässig das Ziel vor Augen, taten wir gut daran, unsere Wurzeln so schnell wie möglich zu vergessen, geschmeidig, anpassungsfähig und ein bisschen gesichtslos zu werden.“
Der DDR-Alltag galt im Vergleich zu den Versprechungen des Westens als langweilig und trist. Die Wandzeitungen zur Woche der Waffenbrüderschaft oder die Spartakiade, die das Leben der Kinder im „real existierenden Sozialismus“ geprägt hatten, wurden einfach durch Schülerzeitungen und Bundesjugendspiele ersetzt. Der in Ostberlin geborene Autor Jochen Schmidt hat in einem Gespräch (taz vom 1. 10. 2000) mit seinem aus Hannover stammenden Schriftstellerkollegen Tobias Hülswitt darauf hingewiesen, dass im Osten bis Mitte der Neunzigerjahre eine Westorientierung vorherrschte und erst allmählich Themen, die man dort vorher nicht beachtet hatte, als „literaturwürdig“ erkannte. „Über einen Pioniernachmittag hätte man nicht geschrieben, denn das war graue Wirklichkeit und wird erst jetzt interessant.“
Vor allem Thomas Brussig schlug 1995 mit seiner Satire „Helden wie wir“ einen neuen Ton an, wie der Vergangenheit zu begegnen sei, ohne in die allgemeine Larmoyanz über den Verlust verloren geglaubter Gewissheiten zu verfallen. Was jungen Ostdeutschen lange Zeit als Nachteil vorgekommen war, erschien ihnen durch die Distanz von wenigen Jahren als Besonderheit und Vorzug gegenüber den Biografien westdeutscher Altersgenossen, für die sich weit weniger geändert hatte und die noch immer in ihre Heimatdörfer und Jugendzimmer zurückkehren konnten, als seien sie nur mal eben im Urlaub gewesen.
Viele junge Ostdeutsche wollen, wie Jana Hensel, wieder wissen, wo sie herkommen, weil von dem, was einst die Deutsche Demokratische Republik verkörperte und ihre Visionen ebenso ausdrückte wie ihr Scheitern, im Laufe der Neunzigerjahre nur Reste übrig geblieben sind. „Ein anderes Jahrzehnt“, schreibt Jana Hensel, „schien es auf dem Boden der DDR nie gegeben zu haben. Die Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahre hatte man vor unseren Augen in Windeseile wegsaniert.“
Vielleicht war dieser rasante Wandel ein Grund dafür, warum in schummrigen Ostberliner Kellern und Kneipen Lesebühnen entstanden, auf denen lustige kleine Episoden aus einem verschwundenen Land vorgetragen wurden und scheinbar längst Vergessenes literarisch wieder auferstand.
Vielleicht liegt es an der allgemeinen Krise, dass diese Manuskripte nun zunehmend den Weg in die Verlage und Buchhandlungen finden, weil die Sehnsucht nach festen Bezugsgrößen steigt und sich die gerade erwachsen Gewordenen heute wie vor siebzig Jahren Klaus Mann gegen die künftigen „weltgeschichtlichen Veränderungen“ durch Verweis auf Herkunft und Heimat absichern wollen. Im Grunde dienen die Romane und Erzählungen jüngerer ostdeutscher Autoren wie Jakob Hein, André Kubiczek, Antje Rávic Strubel, Julia Schoch oder Jochen Schmidt, so unterschiedlich sie im Einzelnen auch sein mögen, der Selbstvergewisserung und handeln von der Suche nach einem Ort, den es nicht mehr gibt und der nur noch in der Erinnerung der Figuren fortlebt. Sie schreiben, ganz ohne Pathos, manchmal ein wenig selbstironisch und durchaus erfolgreich, über ihre Kindheit in der DDR und über die Schwierigkeiten, im vereinten Deutschland anzukommen.
Der „merkwürdige Hang zur Retrospektive“, den Florian Illies in seinem Buch „Generation Golf“ den gerade erwachsen gewordenen Westdeutschen bescheinigt hatte, ist grenzenlos – das zeigen der derzeitige Boom junger ostdeutscher Literatur und die hohen Auflagenzahlen der „Zonenkinder“. Solche Bücher befriedigen das Bedürfnis nach Identifikation und Selbstbestätigung.
In Jana Hensels Essay fließen die wichtigsten Topoi ostdeutscher Selbstbeschreibungstexte der letzten Jahre zusammen, in ihm verdichten sich die Merkmale einer Sozialisation, die von einschneidenden Veränderungen und Brüchen gekennzeichnet ist. Hensel entwirft mit ihrem Buch geradezu eine Enzyklopädie junger Positionen und will durch die häufige Verwendung von „Wir“ ein Zusammengehörigkeitsgefühl konstruieren, das die individuellen Unterschiede ausgleichen und eine gemeinsame historische Grundlage schaffen soll.
Idealtypisch lässt Jana Hensel noch einmal die Stationen einer Kindheit in der DDR zwischen Plattenbauten und HO-Märkten, zwischen Jugendweihe und Fahnenappell Revue passieren. Mit anschaulichen Beispielen erklärt sie die modische Geschmacksverirrung vor der Wende und die erste Liebe danach, erzählt von Auslandsaufenthalten in Westeuropa und beschreibt den ausbleibenden Generationskonflikt mit den Eltern, die heute „wie Dreißigjährige gerade einmal so weit sind, das Geld für die monatlichen Ausgaben zu verdienen“.
Im Zentrum ihrer Darstellung stehen dabei die so genannten Zonenkinder. Diejenigen, die noch zu jung waren, um auf das SED-Regime zu reagieren, und schon zu alt, um das neue System vorbehaltlos anzunehmen. In einer Zeit des Übergangs, in der Fremdes Vertrautes ablöst, wird die Generation und die Geschichte, die sich ihre Mitglieder erzählen, zwangsläufig zum entscheidenden Bezugsrahmen: „Das einzige Kontinuum unseres Lebens mussten wir uns selbst erschaffen. Das ist: unsere Generation. Nur die Erfahrungen der letzten zehn Jahre und alle Freunde, die sie teilen, bilden unsere Familie.“
Florian Illies’ „Generation Golf“ und Jana Hensels „Zonenkinder“, sind, obwohl sie in ihren Büchern Deutschland wieder in zwei verschiedene Sphären teilen, letztlich gar nicht so weit voneinander entfernt. Beide trauern der Kindheit hinterher, den Siebziger- und Achtzigerjahren, als es noch zwei deutsche Staaten gab, mit Helmut Kohl, Cherry Coke und langhaarigen Friedensaktivisten auf der einen und Erich Honecker, Clubcola und bärtigen Bürgerrechtlern auf der anderen Seite. Beide beschreiben die Unterschiede, bevor sich die jeweiligen Besonderheiten endgültig aufzulösen begannen. Generationenbücher wie Jana Hensels „Zonenkinder“ stehen am Ende einer kulturellen Angleichung. Ost- und Westdeutsche sind heute kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Und das liegt nicht nur daran, dass sich die Ossis den Wessis angepasst haben, sondern dass beide Seiten inzwischen gleichermaßen von modischen Trends, sprachlichen Neuschöpfungen und wirtschaftlichen Auf- und Abschwüngen beeinflusst sind. Die jungen ostdeutschen Autoren dürfen nicht als Alt-89er missverstanden werden, die nur zurückschauen. Sie fühlen sich ihren westdeutschen Altersgenossen näher als ihren Eltern oder Geschwistern und möchten mit ihren Texten Auskunft geben über eine Gesellschaft im Wandel. Sie sind die Letzten ihrer Art, die jüngsten Zeitzeugen, die das Ende der DDR und den Beginn einer neuen Ära bewusst miterlebt haben.
Und glaubt man den Thesen des Soziologen Wolfgang Engler, wie er sie in seinem neuen Buch „Die Ostdeutschen als Avantgarde“ dargelegt hat, dann gehört ihnen die Zukunft, weil sie es gewohnt sind, Krisen zu meistern, und früh Strategien entwickeln mussten, um die vielfältigen existenziellen Probleme zu überwinden. Auch Jana Hensel ist am Ende ihres Essays zuversichtlich, dass nun manches leichter wird: „Jetzt sind wir über den Berg. Die ersten zehn Jahre waren sehr ereignisreich. Viele Abschiede. Neue Bekannte. Die nächsten zehn werden ruhiger werden.“
Jana Hensel: „Zonenkinder“. Rowohlt,Reinbek 2002, 175 Seiten, 14,90 €
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