piwik no script img

Parallelwelt 3000

Auch die Kamera muss sich gut benehmen: Unter dem Titel „Bilder aus den Favelas“ zeigt das Kino Arsenal eine Reihe mit brasilianischen Dokumentar- und Spielfilmen

Keiner weiß: Sind es zwei oder vier Millionen Menschen, die in den Wellblechhütten an den Rändern von Rio de Janeiro hausen? Das interessiert auch niemanden im offiziellen Brasilien. Die Favelas, vor Müll und Menschen überquellende Ghettos, sind Geschwüre am Bauch der Megacitys. Wer hier gestrandet ist, der erwartet nichts von der Regierung oder anderen staatlichen Autoritäten. Die Favelas werden von Gangstern beherrscht, Gewalt regiert. Mitunter zeigt der Staat, dass es ihn noch gibt, und schickt seine Sturmtruppen ins Ghetto, bis an die Zähne bewaffnete Spezialeinheiten, die für Ordnung sorgen sollen. Ein sinnloses Unterfangen.

Helio Cruz hat viel Zeit in den Favelas zugebracht. Er hat solche Sturmtruppen angeführt und organisiert und stieg schließlich zum Polizeipräsidenten Rios auf. Joao Moreira Salles und Kátia Lund lassen Cruz in dem brillanten Dokumentarfilm „Notícias de Uma Guerra Particular“ (Nachrichten von einem persönlichen Krieg) ausführlich zu Wort kommen. Und der sagt: „Die Polizei ist in Wirklichkeit nicht da, um gegen Gewalt und Drogen zu kämpfen, sondern um den Status quo zu bewahren.“

Eloquent legt der Polizeichef Ansichten dar, die wenig regierungskonform sein dürften: „Es wird viel über Korruption in der Polizei gesprochen. Aber kann unsere Gesellschaft überhaupt mit einer ehrlichen Polizei umgehen?“ Er erzählt, wie er vor vielen Jahren dabei war, als ein „reicher Mann“ einen jungen Dieb vor einem Supermarkt zusammengeschlagen und den Dieb sowohl als auch den Mann verhaftet hat. Das Resultat: Er wurde nicht mehr zu den Partys in den Country Clubs eingeladen. „Wenn es wirklich um einen Kampf gegen Gewalt und Drogen ginge, dann müssten wir auch die Strandhäuser stürmen, in denen die Besitzer ihre Koksorgien feiern“, sagt Cruz.

Zwischen Kampfszenen in den Favelas und Statements von Polizisten, Dealern und Bewohnern führt er immer wieder über das medial umfänglich erfasste Ghetto als Ort der Armut und Gewalt hinaus. Er könne zwar die Drogendealer in den Favelas verstehen, die mit ihren Geschäften sehr viel mehr Geld verdienten als mit dem Verkauf von Eis an den Stränden der Stadt oder dem Sammeln von Dosen und Flaschen.

Doch auch sie trügen seiner Meinung nach ebenfalls nur zum Status quo bei: Sie bieten eine Art Sozialhilfe, die der Staat nicht leistet, indem sie bei Bedarf Schulhefte, Kleidung und Medikamente für die Bewohner ihrer Favelas besorgen. Politische Visionen fehlten. „Was würde passieren, wenn sich nur einige von ihnen organisierten?“, stellt er in den Raum und schaut dabei so selbstverständlich in die Kamera, als würde er vom letzten Betriebsausflug erzählen. Wobei sich natürlich die Frage aufdrängt, wie ein Mann, der so redet, seinen Job erledigen kann. Im Abspann ist schließlich zu erfahren, dass Helio Cruz nach den Dreharbeiten seinen Dienst als Polizeichef quittiert hat.

Mehrere Filmemacher haben sich in den letzten Jahren um Innenansichten dieser Parallelgesellschaft bemüht, jüngst Fernando Meirelles mit seinem in Cannes umjubelten Film „Cidade de Deus“. Wer die Dokumentar- und Spielfilme im Arsenal sieht, wird wiederholt auf Szenen stoßen, in denen die Kamera über kilometerlange Wellblechlandschaften fliegt, in denen eine Trommelgruppe Samba spielt, Rapper ihre Wortsalven in die brasilianische Nacht feuern, uniformierte Polizisten schmale Gassen hochsteigen und 13-jährige Drogendealer berichten, warum sie hin und wieder auch mal einen Menschen töten müssen.

Kaum fragt man sich, ob man noch einen Jugendlichen über seine verstorbenen Freunde reden hören will, flackert der Titel von „Babilônia 2000“ auf, einem Film, der am 31. Dezember 1999 in zwei Favelas Rios die Vorbereitungen auf den Jahrtausendwechsel festhält. Eine Kamera schwenkt auf eine Frau, die erklärt, dass sie sich schön machen will, wenn sie ins Fernsehen kommt. Als der Journalist sagt, das sei nicht nötig, schnalzt sie verstehend mit der Zunge: „Ah, ihr wollt Armut.“ Und lacht laut. Es wird klar: Die Kamera bleibt Besucher. Wenn sie sich gut benimmt, darf sie dabei sein, wenn sich Brasilianer zum Tanz bereit machen. Doch es kann auch passieren, dass sie einfach stehen gelassen wird. In der Summe zeichnen alle ihre Einstellungen in den Filmen die Konturen einer komplexen Gesellschaft, die ihren eigenen Gesetzen, Moden, Wirtschaftssystemen und Riten folgt. SUSANNE BURG

Vom 28. 11. bis 9. 12. im Kino Arsenal, im Filmhaus am Potsdamer Platz

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen