die ruhe vor dem zweiten sturm von WIGLAF DROSTE
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Wer auf die 40 zugeht, sollte sich wappnen. Es weht ein rauer Wind da draußen für uns Senioren. Knapp zwei Monate war ich mit den drei Herren Lipski, Neher und Struwe vom Spardosen-Terzett in einem großen roten französischen Automobil unterwegs, auf Tournee. Viele tausend Kilometer wurden gefahren – doch Herr Lipski und ich wurden nur transportiert, durchs Land gekarrt als Bagage. Herr Neher und Herr Struwe nämlich sind beide unter 40 und darauf, wie bei Herren dieses Alters üblich, entsprechend eingebildet – weshalb sie sich auch stolz „Erster Sturm“ nennen, also die Arbeit als Fahrwart und Beifahrwart an sich raken. Herr Lipski und ich haben die Grenze zur 40 überschritten, sind deshalb „Zweiter Sturm“. Erster Sturm, Zweiter Sturm: Man kennt das vom Eishockey. Doch während im Eishockey der Zweite Sturm durchaus zum Einsatz kommt, ist es in unserem Fall anders: Herr Lipski und ich sind für immer auf die Rückbank verbannt, Fahr- und Beifahrarbeit dürfen wir nicht leisten. Wir sind verurteilt, dazusitzen und auf den Tod zu warten.

Nun ist Herr Lipski auch wirklich schon sehr alt, 47 – manche sagen, er habe Noah noch persönlich gekannt. Wochenlang saß ich, ein junger Hirsch von 41, neben ihm, der mein Großvater sein könnte, und hörte seinen regelmäßigen Atemzügen zu. Ach, es sei diesem verdienten Gentleman gegönnt, die Tage zu verschlafen und vom Gnadenbrot zu träumen. So ist er wenigstens nicht den Demütigungen ausgesetzt, die man als über Vierzigjähriger über sich ergehen lassen muss. „40 plus“, höhnt es aus dem Ersten Sturm Richtung Rückbank. „Geht’s noch?“ Mit gleichmütigem Schweigen pariert man die billige Provokation. Aber die Zumutungen reißen nicht ab: „Habt ihr schon eure Lifta-Treppenlifte bestellt?“, wollen Herr Neher und Herr Struwe wissen. Herr Lipski döst und hat wohl auch sein Hörgerät nicht eingeschaltet. Würdig lasse ich die Sticheleien an mir abperlen – und darf mir prompt die Frage gefallen lassen, ob ich das Gebiss nicht eingesetzt hätte und deshalb nicht spräche.

Die beiden Halbstarken auf der Vorderbank amüsieren sich prächtig und japsen sich schlapp. „Geriatrie-Fraktion“, johlen sie, auch das böse Wort von der „Prostata-Truppe“ ist zu vernehmen. Ist hier eine Grenze überschritten? Müssten Herr Lipski und ich nicht einschreiten, auch im Namen einer humaneren, einer besseren Welt? Unschlüssig schaue ich zu Herrn Lipski herüber, doch der liebenswürdige Greis dämmert selig, als sei er längst in der Anderen Welt …

So bleiben die Quälereien des Ersten Sturms unwidersprochen und ungesühnt. Ach ja, denke ich bei mir, diese jugendlichen Schnellspritzer – die werden auch noch ruhiger. Wie habe ich, als ich selbst noch ein halbes Kind war, ein Mündelbündel wie Herr Neher und Herr Struwe, diesen Satz gehasst: Du wirst auch noch ruhiger. Wenn ich aber Herrn Neher und Herrn Struwe vor mir sitzen sehe, dann gefällt er mir außerordentlich gut. Und wäre auch bestens geeignet als Epitaph, als Grabsteininschrift: Der ist auch ruhiger geworden.