: Regierungsalbtraum aus dem Grundgesetz
1974 entdeckte Franz Josef Strauß den Bundesrat als Waffe der Opposition. SPD und CDU setzen ihn seither gerne für ihre Zwecke ein
November 1974 in Sonthofen. Franz Josef Strauß stand am Rednerpult und erläuterte seine „Taktik jetzt“: Die Unionsländer könnten doch im Bundesrat auf stur schalten, um die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt in den „Staatsbankrott“ zu treiben. Die „Sonthofen-Strategie“ war geboren.
Der hinterlistige Einfall kam Strauß nicht zufällig erst auf dieser CSU-Landesgruppen-Tagung – viel früher wäre eine Blockadepolitik nicht möglich gewesen. Denn der „klassische Föderalismus“ löste sich in der Bundesrepublik erst Ende der 60er-Jahre auf. Erst damals kam es zu dem Phänomen, das Politologen „Politikverflechtung“ nennen.
Es begann mit der Idee, niedergelegt in Artikel 72 des Grundgesetzes, dass die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ im ganzen Land zu wahren sei. Also regelte man unter anderem die „konkurrierende Gesetzgebung“, die dem Bund zum Beispiel Zuständigkeiten für die Wirtschaft, die Umwelt und die Regionalpolitik einräumt. Zudem wurden „Gemeinschaftsaufgaben“ definiert, die zur Bund-Länder-Zusammenarbeit etwa bei der Bildungsplanung und Forschung verpflichten. Diese Kompetenzen traten die Länder jedoch nur ab, weil sie mehr Mitspracherecht erhielten. Ergebnis: Waren anfangs nur 10 bis 20 Prozent der Bundesgesetze zustimmungspflichtig, sind es heute 60 Prozent.
Keine Reform des Aussitzers
Auch die SPD erkannte das taktische Potenzial: Kurz vor der Bundestagswahl 1998 ordnete Parteichef Oskar Lafontaine an, dass die Steuerreform der Union unter Kanzler Kohl im Bundesrat zu verhindern sei. Der Ober-Aussitzer sollte sich nicht als tatkräftiger Reformer profilieren können. Zwei Jahre später dann brachte die SPD durchaus verwandte Finanzgesetze in den Bundesrat ein – diesmal versuchte die Union zu blockieren. Doch großzügige Steuergeschenke an ausgewählte CDU-Länder retteten den Kanzler. Ähnlich passierten auch Riesters Rentengesetze das Ländergremium. Der vorerst letzte Blockade-Akt ereignete sich im Frühjahr, als das Zuwanderungsgesetz nur verabschiedet werden konnte, weil der Brandenburger SPD-Ministerpräsident Manfred Stolpe zustimmte – obwohl seine CDU-Koalitionspartner mauerten. Blockaden im Bundesrat sind nur möglich, weil die Stimmen der Bundesländer einheitlich abgegeben werden müssen. Falls sich Länderkoalitionen nicht einigen, schreiben die Koalitionsverträge meist vor, sich zu enthalten. Da aber zustimmungspflichtige Gesetze eine positive Mehrheit erhalten müssen, wirkt die Enthaltung wie ein Nein.
Niedersachsens Ministerpräsident, Sigmar Gabriel (SPD) hat daher kürzlich drei Vorschläge unterbreitet, wie sich die Abstimmungsregeln ändern ließen: Die Länder könnten gespalten abstimmen, Enthaltungen dürften nicht mehr als Neinstimmen zählen oder aber die Stimme des Ministerpräsidenten entscheide. Bedauerlich: Diese Vorschläge bräuchten wiederum die Zustimmung des Bundesrates. Und wer dort gerade die Mehrheit hat, lässt sich bestimmt nicht entmachten. ULRIKE HERRMANN
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