: Fischstäbchen in Seenot
Tod eines Überlebenskünstlers: Europas Fischerei steht vor dem Ende des Kabeljaufangs in der Nordsee. Der fruchtbarste und bekannteste aller Meeresfische braucht dringend eine Auszeit – und zwar schnell
von MANFRED KRIENER
Als der US-Staat Massachusetts 1798 sein Parlamentsgebäude wechselte, musste auch die wichtigste Reliquie ihren Platz verlassen. Ein großer holzgeschnitzter Kabeljau wurde im Bostoner Sitzungssaal abgehängt, in Stars and Stripes eingewickelt, auf eine Trage gelegt und von drei Abgeordneten nebst Sicherheitsbeamten in einer Art Fischprozession feierlich zum neuen Amtssitz geleitet. Dort erhob sich die Versammlung, als das heilige Holzstück hereingetragen wurde, und spendete orkanartigen Beifall. „Die Neuengländer hatten schon immer das Zeug, sich wie Narren aufzuführen“, beschreibt Mark Kurlansky in seinem großartigen Buch „Kabeljau – der Fisch, der die Welt veränderte“ (Ullstein, Berlin 2001, 320 Seiten, 8,45 Euro) die Szene.
Doch die kultische Verehrung ist mehr als ein Narrenstück. Massachusetts verdankt dem Fisch mit dem großen Maul Reichtum und Unabhängigkeit. Der Kabeljau, so Kurlansky, hat „eine abgelegene Kolonie halb verhungerter Siedler zu einer internationalen Handelsmacht aufsteigen lassen“. Ähnliche Fischprozessionen könnte man sich auch in Island, im Baskenland, in manchen britischen Häfen und vor allem in Neufundland vorstellen. Auch dort war der gierige Allesfresser Gadus morhua als wichtigstes Handelsgut für Glück und Wohlstand verantwortlich.
Vorbei! Im Juli 1992 verkündete die kanadische Regierung das Unvorstellbare: das Verbot der Kabeljaufischerei vor Neufundland. Dreißigtausend Fischer wurden über Nacht arbeitslos. Die Bestände des fruchtbarsten aller Meeresfische waren zusammengebrochen, bis heute haben sie sich noch nicht erholt. Ausgerechnet dort, wo man den Kabeljau einst „mit Körben aus dem Wasser schöpfte“, war der Atlantik leer gefischt. Nirgends hatte es mehr Kabeljau als vor Neufundland gegeben, wo er so dicht gedrängt stand, dass man angeblich auf seinem Rücken übers Meer laufen konnte. Inzwischen befindet sich der Fisch mit dem wunderbar weißflockigen Fleisch fast überall „außerhalb sicherer biologischer Grenzen“, wie die Wissenschaftler den Notstand einer Art hölzern umschreiben.
Noch in diesem Jahr muss der EU-Ministerrat, der am Donnerstag zusammentraf, auch für den Nordsee-Kabeljau die Reißleine ziehen. O-Ton der Empfehlung des Internationalen Rats für Meeresforschung: „Die Fischerei auf Kabeljau ist in der Nordsee, der Irischen See und westlich von Schottland ab 1. Januar 2003 zu schließen; ferner sollten auch alle Fischereien, in denen Kabeljau-Beifänge unvermeidlich sind, geschlossen werden.“ Dies beträfe die Fischereien auf Wittling, Schellfisch, Scholle und Seezunge.
Sollte die Politik der Wissenschaft folgen, wäre dies ein ökonomischer Genickschlag für die europäische Fischerei. Doch Mitleid ist fehl am Platz. Mit erstaunlicher Verleugnungskraft haben Fischindustrie und Politik die prekäre Situation immer wieder schöngeredet. Jetzt ist die Bestandsaufnahme so niederschmetternd wie nie. Die EU-Minister werden harte Konsequenzen kaum vermeiden können. Jedes weitere verlorene Jahr würde die Zahl laichfähiger Alttiere erneut schrumpfen lassen und eine schnelle Erholung verhindern.
Damit kein Irrtum aufkommt: Der Kabeljau wird als biologische Art bestimmt nicht aussterben. Aber seine Bestände sind nach zwei Jahrhunderten Überfischung so geschrumpft, dass der weitere industrielle Fang eingestellt werden muss, weil der Kabeljau sonst als Speisefisch für Jahrzehnte ausfallen könnte. Dass gerade der Kabeljau aus den Netzen verschwinden konnte, grenzt an ein Wunder. Kein anderer Fisch ist biologisch besser gerüstet. Ein einzelnes Weibchen legt bis zu neun Millionen Eier. Der Kabeljau ist unempfindlich gegen Krankheiten und frisst vom Seetang bis zum Hering alles, was sich seinem Maul nähert. Doch die in den Weltmeeren gefangenen Exemplare sind immer kleiner geworden. Vorbei die Zeiten, als man regelmäßig bis zu eineinhalb Meter große Fische fing. Größe und Alter sind für die Fruchtbarkeit entscheidend. 25 Zentimeter mehr bedeuten oft die doppelte und dreifache Menge an Eiern.
Kabeljau ist leicht zu fangen. Er kämpft nicht mit dem Haken und geht wahllos auf jeden Köder. Als französische Fischer Mitte des 19. Jahrhunderts, lange vor der Schleppnetzfischerei, kilometerlange Langleinen mit bis zu zehntausend Haken einführten, war das Hauptproblem, genügend Köderfisch anzubringen. Das Fangen selbst war kinderleicht, der Markt riesig.
Der Allesfresser bietet reiche kulinarische Vorzüge. Kopf, Rogen, Leber, Zunge, Magen, Schwimmblase und natürlich die Filets werden gegessen. Isländer und Japaner mögen selbst „die Milch“ (das Sperma) des bekanntesten Fisches aus der Gattung der Dorschartigen. Kabeljaumägen werden gerne mit Leber gestopft und gekocht. Spanier lieben Kabeljaukutteln. Kabeljau war es auch, aus dem die ersten Fischfilets und Fischstäbchen bestanden, die nach Einführung der Filetiermaschinen 1921 die Küchen der Welt eroberten.
Die Fischstäbchen waren auch ein Produkt der zeitgleich etablierten Gefriertechnik. Filets wurden gestapelt und in Blöcken eingefroren. Später wurden die Blöcke in Scheiben zersägt und zu Fischstäbchen geschnitten. Filets und Stäbchen sorgten für eine Revolution: Menschen, die noch nie Fisch gegessen hatten, weil ihnen die Zerlegung zu aufwändig oder zu eklig war, griffen plötzlich zu und kauften ein rechteckig standardisiertes Lebensmittel, das durch nichts mehr an Meeresgetier erinnert.
Auch „Fish and Chips“, das in Zeitungspapier gewickelte legendäre Essen der britischen Arbeiterfamilien, bestand aus Kabeljau. In Island war Kabeljau sogar Brotersatz. Man brach sich ein Stück getrockneten Stockfisch ab, setzte einen Klecks Butter drauf und schob es in den Mund, wo es langsam zerkaut wurde. Stockfisch, der getrocknete Kabeljau, ist eine alte Konservierungsform, die sich bis heute gehalten hat. Kulinarisch macht sie durchaus Sinn, weil frischer Kabeljau eine eher langweilige Milde ausstrahlt und die Salzdröhnung und Trocknung gut verträgt.
Angefangen bei den Leinenfischern, die mit ihren Segel- und Ruderbooten hinausfuhren, hat der Kabeljau alle Fischereitechniken gesehen: die schnellen Schoner, die ersten Trawler ab 1918 und zuletzt die monströsen Fabrikschiffe mit ihren Schleppnetzen, in denen sechs Jumbojets Platz hätten. Das moderne Schiff der EU-Fangflotten ist die zerstörerischste Form des Fischfangs. Um den am Meeresgrund lebenden Kabeljau zu fangen, wird das Schleppnetz wie ein riesiger Staubsauger über den Meeresboden gezogen. Zurück bleibt eine Wüste. Bis zu vierzig Prozent des Fangs werden an Bord aussortiert und tot ins Meer geworfen.
Ob die Sortiermannschaften der Fabrikschiffe jemals das „Manual of Naval Cookery“ der britischen Admiralität von 1921 gelesen haben? Dort wird der ideale Kabeljau beschrieben: „Der Kopf sollte groß sein, der Schwanz klein, die Schultern dick, die Leber sahnig weiß, die Haut rein und silbrig schimmernd.“
Manfred Kriener, 49, ist freier Journalist in Berlin und Chefredakteur der Zeitschrift Slow Food. Bis 1990 war er taz-Ökoredakteur
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