: Jubelnde Kokken
„Sweet Babylon“ im Jungen Theater: Das Gros der Menschheit ist kokkeninfiziert – bis auf vier Europäer
Morbus Okzidentalis: Im 3. Jahrtausend in Europa verbreitete Seuche, auch genannt ‚Krankheit der Leere und des Identitätsverlustes‘; Im fortgeschrittenen Stadium werden Körper, Seele und Geist zerfressen. Symptome: medusenhaftes Haar, schmerzgerötete Augen; Verbreitet wird die Krankheit durch Eurokokken. Als Abwehrmittel ist nur Amerikoon bekannt, was oftmals in seiner Wirkung überschätzt wird.
Bereits im Jahr 1927 erfand Autor Yvan Goll den mysteriösen Erreger und beschrieb in seinem Buch „Die Eurokokke“, wie die Menschheit auf das Ende ihrer Zivilisation zurast. Eine niemals welkende Theorie, die sich Ute Falkenstein und Oliver Peuker von der Cosmos Factory als Vorlage für ihre Inszenierung „Sweet Babylon“ nahmen. Am Donnerstag schwirrte die Eurokokke im Jungen Theater durch die Luft – ein Stück, das erschreckt und ansatzweise panisch macht.
Im 3. Jahrtausend flüchten sich vier bislang noch nicht von der Kokke infizierte Europäer in die seltsame Bar des Dr. Syrianx. Dort versuchen sie mit Hilfe von abstrusen Spielchen die bittere Wirklichkeit zu verarbeiten. „Das Wort ‚Herz‘ ist unzeitgemäß“, wirft immer wieder einer aus dem Quartett ein. Ein anderer antwortet: „Das Wort ‚Herz‘ ist bei Todesstrafe verboten.“ Da drängt sich der Link zu George Orwell‘s „1984“ auf. Kein Wunder, dass sie durchdrehen.
Dennoch ist „Sweet Babylon“ ein Stück mit viel Humor: Lu (Anja Steyer) versteigert Relikte aus dem 20. Jahrhundert, die ehemalige Miss Europe zum Beispiel oder ein Tütchen Freiheit, mit Gleichheit und Brüderlichkeit im Bonuspack. Später interviewt sie in charmantem holländischen Akzent den texanischen Multimillionär Bull, der Europarelikte sammelt und sich Zeit einfach kauft, wenn er keine hat.
Das Stück funktioniert, was nicht zuletzt an der Überzeugungskraft der Schauspieler liegt. Es werden Texte zitiert, die in unergründliche Terrains abdriften, Sätze wie: „Im Alkohol des Gesteins gärt schon der Wahnsinn.“ Das Geheimnis ihrer Botschaft ist manchmal kaum zu lüften. Doch solch Surreales schlüpft auf eine Art und Weise aus den Schauspielermündern, dass schon Melodie und Klang ein Genuss sind – Inhalt ist zweitrangig.
Die Barbesucher verteufeln popelige „Alltagsprobleme“: Kommt der Teebeutel in die braune oder in die grüne Tonne? Wohin verschwinden all die Kaffeelöffel? Was kommt eigentlich im Fernsehen? Fragen, die sich wahrscheinlich jeder irgendwann stellt. Nur, dass die Cosmos Factory sie als Zeichen fortgeschrittener Kokken-Infizierung wertet.
„Alles voller Kokken“, schreit Henry (Oliver Peuker) später. „Sie haben sich in den Gehirnspalten inkrustiert.“ Dann verlischt das Licht. Unheimlich, so alleine gelassen zu werden. Jetzt muss man sich nämlich eingestehen, dass man vielleicht später, zu Hause, noch mal den Fernseher anknipsen wird, um sich eine richtig schlechte Soap reinzuziehen. Da jubeln die Kokken.
Susanne Polig
Im Jungen Theater am Güterbahnhof. Weitere Vorstellungen: 30.11. und 1.12, um 20.30 Uhr. Karten ☎ 700 141
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