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Erlebnisorientierter Terror

Holger Biedermann macht in seinem Krimi „Von Ratten und Menschen“ zwei Underdogs zu Opfern der Globalisierung

11. September 2001: Was noch an diesem Tag passiert, muss der Roman nicht erzählen

Sie sind jung, aber das nützt ihnen auch nichts. Lennie und George jobben hier und da, während sie von einer Ranch träumen, am liebsten mit ganz viel Kaninchen: John Steinbecks Roman „Von Mäusen und Menschen“ erzählt von zwei Menschen, die einen Traum haben und mit ihm untergehen. „Von Regeln hat er keine Ahnung“, so heißt es an einer Stelle über den schwachsinnigen, zugleich gutmütigen wie gefährlichen Lennie. Am Ende, kurz bevor er gelyncht werden soll, gibt ihm George den Gnadenschuss.

Ein paar Jahrzehnte später feiern die beiden Underdogs nun ihr literarisches Comeback, und zwar in Holger Biedermanns Krimi „Von Ratten und Menschen“. Zwei junge Burschen, Leonhard Schmalbek und Georg Kreiensen, Lennie und George genannt, setzen sich von der Urlaubsinsel Mallorca ab, auf der sie eigentlich an einem so genannten erlebnisorientierten Resozialisierungs-Projekt teilnehmen sollen. Nachdem sich die beiden auf kriminelle Weise das nötige Geld verschafft haben, landen sie drei Tage später – am 11. September 2001 – in Hamburg, St. Pauli.

Zur gleichen Zeit läuft in Hamburg eine von Interpol organisierte Großfahndung. Kommissar Pieter Lund, passionierter Jazzhörer und ein wenig melancholisch, hofft, mit seinem Einsatzkommando das Hamburger Netz eines international arbeitenden Drogenrings zu zerschlagen. Was sonst noch an diesem Tag passiert, muss der Roman nicht erzählen.

Doch bevor Pieter Lund von den Terroranschlägen in den USA erfährt, stößt er im Zuge seiner Ermittlungen erst einmal auf eine Leiche. Gerd Novitzki, ein 46-jähriger Sozialarbeiter, liegt mit zertrümmertem Schädel und schwarz angemalten Zähnen in seiner Wohnung. Novitzki hatte offensichtlich auch als Rauschgiftkurier gearbeitet. Aber warum musste er sterben? Und warum gab es neben den arabischen Kurieren überhaupt einen deutschen? Hatte Novitzki etwa noch andere Kontakte? Politische, terroristische?

Während sich „Von Mäusen und Menschen“ als ausweglose Milieustudie las, ist man versucht, wenn nicht genötigt, in Biedermanns Roman einen sozial engagierten Politthriller zu sehen. Denn leider hat der Autor, der auch Musiker und Komponist ist, ein Vorwort geschrieben, in dem er sich „nach dem 11. September“ für seinen Krimi rechtfertigen zu müssen glaubt.

Das ist so peinlich wie überflüssig. Der 11. September steht ohnehin in keinem Zusammenhang mit der hier erzählten Kriminalgeschichte. Oder will uns der Autor glauben machen, dass die im weitesten Sinne als Globalisierungsverlierer auftretenden Lennie und George das Äquivalent zum Terroristen Atta oder zu den Selbstmordattentätern im Nahen Osten abgeben? Plausibler scheint es da, das Großereignis 11. September als „McGuffin“ im Sinne Hitchcocks zu verstehen – also als Anlass, der die Dinge, hier zum Beispiel die Ermittlungen, ins Rollen bringt, ohne dass er mit der weiteren Handlung verknüpft ist.

Dem Autor geht es vor allem um Empathie mit Losern und um die indirekt vermittelte Botschaft, dass Gewalt vermeidbar und Gerechtigkeit möglich ist, wenn junge Menschen nur im richtigen Milieu aufwachsen. Die Ironie der Geschichte will es, dass gerade derjenige, der gewissermaßen den Diskurs des Erziehungswesens verwaltet, nämlich ein Hamburger Pädagogikprofessor, diese Botschaft nicht vermitteln kann: Er lässt die Teilnehmer seines „erlebnisorientierten Resozialisierungs-Projekts“ auf Mallorca Häuser bauen, die er anschließend auf eigene Rechnung an spanische Immobilienhaie verkauft und so selbst von der Globalisierung der Weltwirtschaft profitiert.

„Von Ratten und Menschen“ möchte einen größeren Fall konstruieren als den von Kommissar Lund. Unter dieser Last brechen Lennie und George ein weiteres Mal zusammen. Das Remake von Steinbecks Roman ist durchaus unterhaltsam und präzise in seinen Beschreibungen, aber es will einfach viel zu viel – und scheitert darum. DIETER WENK

Holger Biedermann: „Von Ratten und Menschen“. Edition Nautilus, Hamburg 2002, 192 S., 12,90 €

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