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Dampfwalzenegoismus

„Ich bin dafür dies zu vergessen“: Ein Band mit Postkarten und Briefen erzählt die traurige Geschichte der Freundschaft zwischen Uwe Johnson und seinem vergessenen Schriftstellerkollegen Jochen Ziem

von JOCHEN SCHIMMANG

„Leipzig in Sachsen ist die wahre Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik“, sagte Uwe Johnson 1977 in seiner Rede anlässlich der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Im Rückblick hatte er allen biografischen Grund zu dieser Behauptung, denn im Leipzig der Jahre 1954 bis 1956, in dem Johnson sein Studium absolvierte, gewann er die wichtigsten Grundlagen für seine spätere Autorschaft.

Die Universität war etwas durchaus Besonderes, und die kulturellen Traditionen der Stadt Leipzig ließen sich nicht ohne Weiteres dem DDR-Sozialismus einverleiben. Dass Johnson überhaupt dorthin kam, lag an dem Glücksfall, dass man ihn in Rostock zunächst rausgeschmissen hatte wegen widerständigen Verhaltens während der Kampagne gegen die Junge Gemeinde im Frühjahr 1953. Ein Jahr nach Johnsons Tod hat man das als Literatur aus seiner eigenen Produktion nachlesen können: „Ingrid Babendererde“ hieß der Roman, der in den Leipziger Jahren entstand und den Suhrkamp 1985 veröffentlichte.

„Hier geriet ich an Freunde“, heißt es über Leipzig lapidar in der schon erwähnten Rede. Zu denen gehörte auch der zwei Jahre ältere Jochen Ziem, der aus Halle nach Leipzig gekommen war, aber sich schon 1955 aus der DDR verabschiedete und zunächst nach Hannover ging. Die Briefe und Postkarten von Johnson an Ziem hat nun der Literaturwissenschaftler Erdmut Wizisla, Leiter des Brecht-Archivs in Berlin, neben Texten von Jochen Ziem selber vorgelegt.

„Leaving Leipsic next week“ erzählt eine tragische Geschichte mit fadem Nachgeschmack. Es beginnt damit, dass Johnson Ziem auffordert, doch nach Leipzig zurückzukehren. Johnson selber, der seinen Staat dann 1959 verlassen wird, arbeitet in den Jahren vorher nicht nur an „Ingrid Babendererde“ – er arbeitet an seiner Selbsterschaffung als Autor. Das soll auch heißen: Uwe Johnson übt selbst in seiner Korrespondenz schon jenen vertrackten, umständlichen Stil, der in der Tat die Umstände genau erfassen will. Allerdings stürzt er im Gegensatz zu den späteren Veröffentlichungen zuweilen noch heftig ab. Ziem, der in der Anrede „Hallo Schochen“, aber auch „Guten Tag, Herr Ziem“ tituliert wird, bekommt etwa so eine Postkarte: „Hallo Schochen, Sie hatten gestern Ihren Geburtstag. Ich halte für möglich, daß Sie diesen fünften April als einen Festtag hielten. Dem habe ich nichts hinzuzufügen.“ Johnson weiß, dass die Unverwechselbarkeit der Diktion, der Stimme den Autor macht.

Als Autor versucht Jochen Ziem im Westen Fuß zu fassen. Er wird mehr und mehr zum Theaterautor, der in den Kontext Kroetz, Sperr und Fassbinder einzureihen wäre und zeitweise durchaus erfolgreich ist. 1969 begründet er den Verlag der Autoren mit, fühlt sich aber mehr und mehr als Außenseiter des Betriebs. 1980 erscheint sein Roman „Der Junge“, von der Kritik durchaus gelobt, dennoch kaum wahrgenommen. Ziem stirbt 1994.

Die Freunde aus Leipziger Zeiten hatten sich mehr und mehr entfremdet. Johnson ermahnt Ziem, durchaus zu Recht, aber unverkennbar oberlehrerhaft, in seinen Texten der Schablone zu entkommen und „lieber von dem Amt für Verfassungsschutz, vom Geschmack des Biers und dem Aussehen Ihrer nächtlichen Sirenen“ zu schreiben. Später schreibt Ziem in seinen so genannten „Jahrebüchern“: „Ich habe nicht seine Sturheit und auch nicht seinen Fleiß besessen.“ Kurz danach spricht er sogar vom „Dampfwalzenegoismus seines Charakters“.

Schlägt sich auch hier viel Neid auf den ungleich Erfolgreicheren nieder, so war Johnson ganz gewiss ein unbeirrbarer Planer seiner eigenen Karriere. Er war nach Zeugnissen sehr verschiedener Kollegen im Umgang kein angenehmer Zeitgenosse. Zudem neigte er bekanntermaßen zur Paranoia, und die zerstört letztendlich auch die Beziehung zu Ziem, den er 1968 ohne jeden Grund beschuldigt, Details aus dem Leben seiner Frau an die Yellowpress verkauft zu haben. Er muss später diese Behauptung zurücknehmen, aber seitdem sind sich beide für immer aus dem Weg gegangen. Die letzte knappe Briefkarte an Ziem vom 19. 9. 1968 lautet: „Lieber Herr Ziem, ich bin dafür dies zu vergessen. Mit den schönsten Grüßen an Ihre Frau, Ihr U. J.“

Ziems „Jahrebücher“ bleiben, von einem kurzen Auszug in diesem Band abgesehen, im Archiv, und seine Erzählungen und mittlerweile auch die Stücke sind heute fast vergessen. Johnsons „Jahrestage“ dagegen gehören unbestreitbar zum Kanon der deutschen Literatur. Sieht man von der erkennbar unterschiedlichen Größe des Talents beider Autoren ab, liegt der Grund für diese unterschiedliche Entwicklung paradoxerweise im frühen Abschied Ziems von seinem Staat. Damit verlor er auch seine möglichen Themen, ohne dass es ihm gelang, im Westen neue zu finden. Johnson dagegen verließ seinen Staat erst, nachdem er ihm als lebenslange Obsession und als Stoff nicht mehr verloren gehen konnte. Denn dass Johnson der „Dichter der beiden Deutschland“ gewesen sei, wie es später hieß, ist ja ausgemachter Unsinn: Sein Leben lang hat er in der Erinnerung den Staat umkreist, in dem er aufwuchs und mit dem er nach eigenen Worten schon früh „seinen persönlichen Handel“ hatte. Die Entwicklung dahin zeichnet dieses Buch nach.

Uwe Johnson: „Leaving Leipsic next week“. Briefe an Jochen Ziem. Texte von Jochen Ziem. Herausgegeben und eingeleitet von Erdmut Wizisla. Transit Verlag, Berlin 2002, 124 S., 14,80 €

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