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Unsere schönen Projektionen

Warum tanzen viele junge ostdeutsche Autoren vor uns Westdeutschen plötzlich herum wie die Indianer beim Powwow-Tanz? Und warum finden wir sie dabei auch noch so exotisch? Über die Möglichkeit, selbst vorgeführt zu werden in unserem seltsamen Begehren nach dem Osten als dem ganz Anderen

von SUSANNE MESSMER

Da will man mal interessiert wirken – wie kürzlich dem Vater einer ostdeutschen Freundin gegenüber –, und prompt führt das zu den berühmten Kommunikationsproblemen. Man kommt also auf die vielen Neuerscheinungen von „Zonenkindern“ zu sprechen, von Autoren aus der DDR, die zur Wende um die fünfzehn Jahre alt waren und jetzt auf einmal alle ihre Kindheitserinnerungen aufschreiben. Nicht nur, dass der Mann, der sonst sehr aufgeschlossen ist, davon noch nichts gehört hat, auch poltert er gleich los: Reaktionär sei das, diesen kleinbürgerlichen Scheißstaat so zu verniedlichen. Auf das Argument, dass man sich mit fünfzehn noch nicht für den Staat interessiert, egal für welchen, und wie beruhigend es ist, dass es in der DDR auch etwas gab, an dem dieser Überbau vorbeigegangen ist, erwidert er nur: „Ihr wolltet doch auch nicht hören, was für eine idyllische Kindheit eure Großeltern unter Hitler hatten, oder?“ Das findet man natürlich dumm. In den Achtzigerjahren hat kein Mensch mehr die DDR ernst genommen, und man fände es heute nur lächerlich, wenn jemand diese Zeit beschreiben wollte, indem er ernsthaft, sagen wir, an Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ anknüpfen würde, von wegen autoritärer Charakter, alltäglicher Faschismus oder so.

Trotzdem bleibt Irritation. Kurz zuvor hat man noch genüsslich Jana Hensels „Zonenkinder“ (Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002, 192 S., 14,90 €) gelesen, diesen Sachroman über das Verschwinden einer ganzen märchenhaften Kinderwelt. Auch die vielen hübschen Geschichten aus der neuen Anthologie „Der wilde Osten“ (hg. v. Roland Koch, Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 240 S., 10 €) lasen sich einfach so weg – Erinnerungstexte von ein paar bekannten und vielen noch unentdeckten Autoren, meist nach 1970 geboren, in denen der Westen kaum oder gar nicht vorkommt, Texte über das erste Moped, den Tod des Wellensittichs, aber auch ernste Themen, wie sie auch im Westen vorkommen: den Widerstand der Pubertät gegen alles, was Autorität verkörpert, die Ödnis im sozialen Wohnungsbau.

Woher plötzlich dieser schale Nachgeschmack? Warum erscheinen auf einmal selbst die Befürworter dieser Bücher zweifelhaft, die, wie man bis dahin glaubte, zu Recht diesen Erinnerungstexten eine notwendige „Selbstvergewisserung“ und „Selbstwiederfindung“ zuschreiben? Warum muss man bei ihren Zurufen „Erzählt euch eure Geschichten!“ mit einem Mal an die Besucher einer Ausstellung über bedrohte Traditionen irgendwelcher Ureinwohner denken?

Könnte es nicht so sein, dass die Westler sich mit Hilfe dieser neuen Flut von Büchern noch einmal so richtig schön den Osten als das Andere imaginieren? Um es im blitzartig klebrig erscheinenden Pluralis Majestatis der Jana Hensel zu sagen: Indem uns der Osten immer das Andere war, haben wir ihn nicht nur verachtet, wir haben ihn auch begehrt. Wir haben ihn genossen. Wir fanden ihn exotisch. Und wer uns heute nicht mitnimmt in seine Bücher, in die Neunzigerjahre, oder uns sonstwie spiegelt und uns damit unseren Exotismus vergällt, den finden wir auch weiterhin exotisch.

Von Anfang an beneideten wir die Ostler um ihren Widerstandsgeist, wir beneideten sie um ihr kleines, geheimnisvolles Land, um ihr Zusammengehörigkeitsgefühl. Wir zogen nach Ostberlin, weil es hier so gemütlich war, wir verkehrten in ihren Diskussionszirkeln und fühlten uns dort entzaubert und oberflächlich. Und obwohl uns ihre Innerlichkeit, ihr manieriertes Getue auf die Nerven geht, gefällt es uns, wenn einer von ihnen erzählt, er habe mit 13 gedacht, die Westler seien zu keinem tiefen Gefühl in der Lage.

Mit Hilfe des Ostens stellen wir uns den Westen nicht nur demokratischer, sondern auch unmenschlicher vor. Wir glauben Wolfgang Engler, wenn er in seinem neuen Buch „Die Ostdeutschen als Avantgarde“ (Aufbau Verlag, Berlin 2002, 180 S., 16,50 €) behauptet, dass sie die Gewinner der Geschichte sein werden. Wir glauben nicht wie Engler an den Ausstieg aus der Arbeitsgesellschaft, wir glauben aber, dass sie uns einholen, ja überholen werden, zumindest die Jungen.

Die Geschichte des Erfolgs der neuen ostdeutschen Literatur ist eine, die man mit Exotismus beschreiben kann. Wer sich einmal in Nordamerika auf die Suche nach seinen Kinderfantasien begeben hat, der wird unweigerlich auf unzählige Plakate gestoßen sein, die Touristen zu den berühmten Powwows einladen, den indianischen Zusammenkünften, bei denen traditionelle Tänze vorgeführt werden, Gesänge, Trommelwettbewerbe und Preisverleihungen. Und was heißt da Tradition? Es ist kein großes Geheimnis, dass sich Indianer für weiße Touristen verkleiden und ihnen den edlen Wilden vorführen, den sie sich wünschen. Aber könnte man das nicht auch als subversive Strategie verbuchen, wirksamer als Mimikry, Anpassung an den Mainstream, oder arroganten Separatismus, die Rückbesinnung auf das Native? Wenn der Indianer sich seiner Maskerade bewusst wäre, wenn er sich den Blick der Touristen parodistisch aneignen könnte, hätte er dann nicht einen dritten Ort gefunden?

Vielleicht ist es gar kein Zufall, dass in den Büchern, die in letzter Zeit auch verstärkt von Autoren erscheinen, die man sonst auf Ostberliner Lesebühnen trifft, immer wieder Karl May auftaucht, Karl May aus Radebeul bei Dresden, der Winnetou und Old Shatterhand erfand, es aber nie nach Amerika schaffte. Nun ist es gar nicht so, dass es in deren Bücher, sei es bei Ahne oder Jakob Hein, Falko Hennig oder Andreas Gläser, nicht auch immer und immer wieder um Kindheit ginge. Doch anders als bei ihren Kollegen Jana Hensel oder den Autoren der Texte für die Anthologie „Der Wilde Osten“, hat man bei ihnen eher das Gefühl, als tanzten sie uns Westdeutschen etwas vor. Mit allem Drum und Dran, mit Federschmuck und großem Gerassel. Allen voran Jochen Schmidt, dessen Schreibgestus man als durch und durch kokett beschreiben muss.

In Schmidts erstem Roman „Müller haut uns raus“ (C.H. Beck Verlag, München 2002, 352 S., 19,90 €) geht es nicht mehr wie in seinem Prosadebüt vor zwei Jahren um die DDR, sondern um die Schwierigkeiten, die man auch nach 1989 noch mit dem Erwachsenwerden hat. Nicht nur dass Jochen Schmidt trotz aller Melancholie seinem versunkenen Land gegenüber die westlichen Klischees auf die Spitze treibt und die DDR-Avantgarde der späten Achtzigerjahre als lächerlichen Verein beschreibt, dem immer Aufmerksamkeit zuteil wurde, egal, ob man „lange Texte mit Buchstabensuppen verfilmte“ oder „mit Innereien jonglierte“. Auch lässt Schmidt seinen Helden immer wieder mit Westlern zusammentreffen, vor denen er sich freudig zu dem kostümiert, den sie sich vorstellen. Einmal lässt Schmidt ihn für eine Frauenzeitschrift eine Geschichte über Margot Honecker bei Alfred Bioleks Kochsendung schreiben, ein andermal lässt er ihn mit einer spanischen Geliebten allein, die „alle meine Gruselgeschichten aus der Zeit unserer Unterdrückung hören wollte. Ich übertrieb und behauptete, wir wären so viele Geschwister gewesen, damit sich alle gleichzeitig woanders nach etwas zu essen anstellen konnten.“

Abgesehen davon, dass auch bei Jochen Schmidt immer mal wieder Karl May auftaucht, sind seine Helden immer dem ausgesetzt, der sie betrachtet: Kein Buch, im dem der Wessi nicht direkt oder indirekt präsent wäre. Das kann man auf seine Publikumserfahrung durch die Lesebühnen zurückführen. Muss man aber nicht. Denn auch außerhalb dieser hermetischen Szene, in der übrigens keine einzige Frau liest, gibt es immer wieder Bücher, die es dem Westler unmöglich machen, einfach zu genießen, weil er selbst drin vorkommt. Und dabei müssen sie gar nicht kokett sein: Antje Rávic Strubel zum Beispiel gelingt es auch in ihrem dritten Buch, die paradoxe wechselseitige Abhängigkeit von Kolonisierenden und Kolonisierten auf sehr spannende Art darzustellen – wenn man das mal etwas unhistorisch formulieren darf –, ohne dass man wie bei Schmidt andauernd darüber lachen muss.

Schon ihr erstes Buch handelte von einer Liebesgeschichte zwischen einer um 1960 und einer um 1970 geborenen Ostdeutschen, die nicht zueinanderfinden, weil ihre Erinnerungen an die DDR so verschieden sind, weil die Ältere die Jüngere schon zu verwestlicht sieht. Und während ihr zweites um die Liebesgeschichte zwischen einer redseligen, aufbrausenden Westdeutschen und einer verschlossenen, vergrübelten Ostdeutschen ging, so stellt sie die Klischees ihn ihrem dritten Buch, dem Nachtstück „Fremd gehen“ (Mare Verlag, Hamburg 2002, 190 S., 18 €) vollends auf den Kopf. Sie erzählt eine seltsame Geschichte um eine ostdeutsche Femme fatale, die eher an eine Westdeutsche erinnert, und ein westdeutsches Naturmädchen, das eher dem Klischee der bescheidenen Ostdeutschen genügt. Die beiden versuchen, einen Krimi zu schreiben. Dies scheitert nicht nur an der unglücklichen Liebe der Westdeutschen zur Ostdeutschen, sondern auch daran, dass sie sich nicht auf einen Mörder einigen können. Für den einen, der in Frage kommt, einen jungen Studenten, interessiert sich die Ostdeutsche mehr, für den alten Mann die Westdeutsche.

Am Ende stellt sich heraus, dass jede der anderen etwas vorgegaukelt hat, um ihren Plot gegen den der anderen durchzusetzen, und man ist sich am Ende nicht mehr so sicher, ob die Ostdeutsche das Buch politischer haben will, weil sie es eben will, oder um der Westdeutschen ihre Erwartungshaltung aufs Brot zu schmieren. Und sobald sie sie auf dem Brot hat, haben auch wir sie auf dem Brot, unsere schönen, exotischen Projektionen.

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