moderne sklaven: Feierabend mit Gerd, dem Kanzler
Die Bundestagspraktikantin
„So groß hatte ich mir es nicht vorgestellt“, sagt Anne Brand, die seit Beginn der neuen Legislaturperiode als Praktikantin in der Verwaltung des Deutschen Bundestages arbeitet. 2.500 Mitarbeiter sind im bürokratischen Hinterbau des Staatsapparats angestellt. Auf Verwaltungsseite allein 236 Praktikanten. Hinzu kommen noch einmal 320 Praktikanten, die jeweils bei einzelnen Abgeordneten beschäftigt werden.
„Praktikant Zone“. Der animierte Bildschirmschoner auf dem PC-Monitor, den sich Brand mit einem weiteren Praktikanten im Referat für Öffentlichkeitsarbeit teilt, passt zwar zur Praktikantendichte. Aber die Weitläufigkeit und parzellenartige Bürostruktur des Paul-Löbe-Hauses verhindert jeglichen Kontakt zwischen den jungen Arbeitskräften. „Ich weiß nix von denen.“ Anne Brand zuckt mit den Schultern.
Die große Anonymität. Das sei aber eigentlich auch der einzige Nachteil. „Es ist nicht so ein Praktikum, wo man mit Büroarbeiten zugemüllt wird.“ Klar, endlos lange Sitzungen in Protokollen zusammenfassen sei zwar nicht besonders spannend. Aber alles in allem seien es eher „größere, inhaltliche Aufgaben“, die ihnen zugeteilt werden. Wie man junge Leute für Politik interessieren könne, zum Beispiel. „MTV und VIVA kann sie am besten abgreifen“, hat Brand nach ihrer Recherche herausgefunden. Oder im Internet: mitmischen.de, die jugendliche Homepage des Bundestags, lädt zum Wertediskussions-Chat mit Wolfgang Thierse. Mit dem sitzt Brand auch ab und an in der Kantine. Zwar nicht am gleichen Tisch, aber der Politpromi-Faktor mache schon den Reiz des Praktikums aus. Erst vor kurzem „ist der Gerd neben mir die Treppe runtergelaufen“, und als sie gestern etwas später als sonst das Paul-Löbe-Haus verließ, seien ihr in der Dunkelheit vier große Männer und ein kleinerer entgegengekommen. Als sie erkannte, dass es der Bundeskanzler war, stammelte sie verdutzt einen Gruß. Gerhard Schröder wünschte ihr höflich einen schönen Feierabend.
Politik hautnah. „In fünf Wochen habe ich hier so viel gelernt, wie in keiner Vorlesung“, erklärt Brand begeistert. Für das Praktikum ist sie extra von Mainz nach Berlin gezogen. Ihr Politikwissenschaftsstudium ruht derweil. Das Bundestagspraktikum ist nicht ihr erstes unbezahltes Arbeitsverhältnis. Anne Brand hat bereits vier un- oder unterbezahlte Praktika hinter sich. „Meine Eltern bezahlen’s mir halt“, sagt sie, „aber es kann bestimmt nicht jeder nach Berlin kommen und umsonst hier leben.“
Benjamin Burau, ebenfalls Praktikant im Referat für Öffentlichkeitsarbeit, hat sich sechs Monate von der Uni beurlauben lassen, um sich durch Jobben auf das Praktikum vorzubereiten. Außerdem versuchte der Politikstudent aus Leipzig einen Teil seines Bafögs zurückzulegen. Dass man während eines Urlaubssemesters kein Bafög erhalte, habe die Sache nicht leichter gemacht. „Man muss es sich eben leisten können“, sagt Burau. Während des Interviews erklingt ein dumpfer, lang gezogener Ton. „Die Plenarglocke“, erklären die Praktikanten das monotone Signal, das entfernt an Walgesänge erinnert.
Die Abgeordneten werden auf eine Sitzung im Plenarsaal aufmerksam gemacht. Auf dem Weg dorthin begegnen uns Finanzminister Eichel und Bundestagspräsident Thierse, die schnellen Schrittes zu einer Abstimmung eilen. Bei den knappen Sitzverhältnissen im Bundestag zählt jede Stimme. „Mir ist aufgefallen, dass sich Opposition und Regierung eigentlich ganz gut verstehen“, berichtet Anne Brand aus dem Behördenalltag. Doch für die überparteiliche Bundestagsverwaltung dürfen politische Ränke sowieso kein Thema sein. Weil sie sich aber auch für die politischen Inhalte interessiert, möchte Anne Brand im Anschluss an ihre Zeit im Referat für Öffentlichkeitsarbeit noch ein Praktikum bei einem Abgeordneten anhängen. Wenn alles klappt, bei dem Abgeordneten aus ihrem Wahlkreis in Mainz. Genau wie sie ist der SPD-Abgeordnete Hartmann nämlich auch gerade in den Bundestag eingezogen. SEBASTIAN HEINZEL
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