off-kino Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet

Neudeutsch nennt man das Phänomen „Slumming“: Wenn die Reichen und Prominenten plötzlich ihre soziale Ader entdecken und ihr Engagement für Arme und Kranke sodann schön publikumswirksam und werbeträchtig in die Öffentlichkeit tragen. Dass penetranter Wohltätigkeitsfimmel jedoch keine sonderlich neue Erscheinung ist, lässt sich in Ernst Lubitschs 1919 entstandener Komödie „Die Austernprinzessin“ erkennen: Dort gibt es den „Verein der Milliardärstöchter zur Bekämpfung des Alkoholismus“, wo die reichen Erbinnen ihre flammenden Reden stets mit einem ordentlichen Schluck begießen und sich um die besonders gut aussehenden „Patienten“ auch schon einmal heftig prügeln. Doch der Verein der Milliardärstöchter ist nur ein Nebenschauplatz in Lubitschs Satire, die die Veränderung der Gesellschaftsstrukturen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg aufs Korn nimmt: Der Kapitalismus der amerikanischen Sieger trifft auf eine obsolete und verarmte europäische Aristokratie. Von Lubitschs Spottlust bleibt dabei niemand verschont: Der „Austernkönig von Amerika“ ist neureich und ohne jede Kultur, er residiert im Schloss und möchte seiner Tochter dazu passend einen echten Prinzen als Ehegemahl kaufen. Der Prinz haust nunmehr mitsamt Diener in einer ärmlichen Hinterhofwohnung, wo man jedoch an den Umgangsformen der vergangenen Ära festhält: „Ich werde nachsehen, ob Hoheit heute empfängt. Nehmen Sie inzwischen auf dem Treppengeländer Platz“, bescheidet der Diener einmal einen der Besucher. Es ist übrigens überliefert, dass sich die zeitgenössischen Kinozuschauer angesichts der schlechten Zeiten für eine ganz andere Attraktion des Films begeisterten: Ein überaus opulentes Hochzeitsbankett bot reichlich Anlass zum Träumen.

„Die Austernprinzessin“ 14.12. im Arsenal 2

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Die Bezeichnung als Nouvelle- Vague-Regisseurs hat Louis Malle nie ganz vermeiden können. Fiel doch der Beginn seiner Karriere als Spielfilmregisseur Ende der 50er-Jahre mit den Anfängen jener „Bewegung“ zusammen, der sich Malle nach eigener Aussage sehr nahe fühlte, von der er sich jedoch auch mit Hinweis auf seine Ausbildung an der Filmhochschule IDHEC und seine Lehrjahre als Unterwasserfilmer bei Jacques-Yves Cousteau abgegrenzt hat. „Sie waren Journalisten und Schriftsteller. Ich war Techniker“, äußerte Malle einst in einem Interview über die Kollegen seiner Generation. Ein Revolutionär der Filmsprache wie Jean-Luc Godard ist er tatsächlich nie gewesen – Aufsehen erregte eher sein Umgang mit Themen wie Jugendkriminalität und Sexualität. In seinem zweiten Spielfilm „Les Amants“ (Die Liebenden, 1958) zeigt Malle eine Ehefrau und Mutter (Jeanne Moreau), die ihren Gatten, das Kind und sogar den Geliebten sitzen lässt, um mit einem jüngeren Studenten davonzugehen. Seinerzeit ein riesiger Skandal: Die deutsche Zensur schnitt die Szenen, die Moreau mit ihrer Filmtochter zeigen, kurzerhand heraus – keinesfalls durfte sich eine Mutter reuelos vergnügen. Die Sexualität im Kino von verschämten Anspielungen und Zweideutigkeiten befreit zu haben gehört zu den großen Verdiensten Louis Malles. Immer wieder kam er im Lauf seiner Karriere auf dieses Thema zurück, er behandelte es ganz unspektakulär, geschmackvoll und oftmals mit Humor. In „Herzflimmern“ (1971) (zu sehen in der übernächsten Woche) geht es um einen als ganz natürlich dargestellten Inzest zwischen Mutter und pubertierendem Sohn, während in „Milou en Mai“ (Eine Komödie im Mai) eine spießbürgerliche Familie im Jahre 1968 auf dem Landgut des Großvaters in die Mairevolte gerät und wenigstens – man glaubt sich schon so gut wie tot – die neue Errungenschaft der „freien Liebe“ noch einmal ausprobieren möchte. So trifft es sich gut, dass die lesbische Nichte ihre Freundin mitgebracht hat und ein muskulöser Lastwagenfahrer zur Gruppe stößt …Malles bedeutendstes formales Experiment ist hingegen die 1960 entstandene Literaturverfilmung „Zazie in der Metro“; der Versuch, den aberwitzigen Roman von Raymond Queneau in eine adäquate Filmsprache zu übersetzen: aberwitzige Verfolgungsjagden wirken hier wie mit falscher Geschwindigkeit abgespielte Stummfilme, Stopptricks verändern die Positionen der Protagonisten innerhalb der Einstellung, wahnwitzige Zerstörungsorgien erinnern an Warner-Zeichentrickfilme. Malle verwendet Verfremdungen und filmhistorische Zitate, er macht In-Jokes und erweist verehrten Kollegen und Freunden seine Reverenz: „Zazie in der Metro“ steht von seinen Filmen der Nouvelle Vague am nächsten.

„Die Liebenden“, 13. 12.–14. 12.; „Eine Komödie im Mai“, 17. 12. im Filmkunsthaus Babylon 1; „Zazie in der Metro“, 18. 12. im Filmkunsthaus Babylon 2

LARS PENNIG